DRG: Anreizsystem als Einladung zum Betrug

Anreizsystem  - Charles Munger

Charles Munger

Charles Munger, ein amerikanischer “Wirtschafts-Weiser” und extrem erfolgreicher Geschäftsmann introduzierte 1995 an der Harvard Business School seine “Psychology of Human Misjudgement”. Wenn man das Verhalten eines Menschen vorhersagen will, so Munger, muss man seine Anreize kennen.

FedEx, ein großer Logistikanbieter, hatte ein Problem: Die Arbeit der Nachtschicht wurde nicht pünktlich fertig. Sie versuchten mehrere Änderungen, um die Effizienz zu steigern; nichts half. Immer wieder ging die Nachtschicht mindestens eine Stunde zu spät nach Hause. Dann wurde das Vergütungssystem geändert: Die Nachtarbeit wurde nicht mehr pro Stunde, sondern pro Schicht bezahlt. Prompt war das Problem gelöst.

US-amerikanische Augenärzte bekamen in den 1990er Jahren 1.700 $ für eine Karaktoperation; OP-Dauer ca. 30 Minuten. Augenärzte hatten hohe Einkommen, in der Regel weit über eine Million USD pro Jahr. Dann beschloss Medicare, dass die Vergütung nur noch 450 $ pro Operation betragen sollte. Sofort gewann eine andere Operation, mit einer überaus üppigen Vergütung viele Freunde unter den Ophthalmologen: Die radiale Keratotomie. Die Wertigkeit der Prozedur war medizinisch fraglich; sie sollte die optischen Eigenschaften der Hornhaut verändern und dadurch Brillen/Kontaktlinsen überflüssig machen. Nicht selten war Blindheit die Folge. Darauf reagierte die medizintechnische Industrie und verbreitete eine weniger riskante Operationsmethode, um die radiale Keratotomie abzulösen: Die Erfolgsgeschichte von LASIK.

Das Anreizsystem, dem die Augenärzte gehorchten, hatte nichts mit medizinischer Ethik oder Patienteninteressen zu tun. Es ging offensichtlich an erster Stelle darum, ihre exorbitanten Einkommen zu sichern.

Deutschland: Gesundheitssystem als Anreizsystem

In Europa ist der Gesundheitsmarkt deutlich strenger reguliert als in den USA. “Reguliert” bedeutet, dass die Mechanismen des “freien Marktes” (teilweise) außer Kraft gesetzt sind. In der medizinischen Versorgung ist diese Regulierung streng und soll die oben beschriebenen Effekte verhindern. Der Patient / das Solidarsystem soll geschützt werden gegen den Anreiz “viel Geld verdienen” (nichts anderes ist der Mechanismus des freien Marktes). Um das zu erreichen muss der Anreiz geändert werden.

Noch in den 1960er Jahren waren die Vergütungen für Ärzte (zumindest für niedergelassene und leitende Krankenhausärzte) so üppig, dass man von einer gewissen “Korruptionresistenz” ausging. Ähnlich hat seinerzeit der Freistaat Preußen versucht, seinen Beamtenapparat gegen Korruption immun zu machen: Hohe Bezahlung der Beamten. Der Arzt wurde ähnlich als “grundethisch” angesehen; ein Fehler sicherlich. Viel Geld haben schafft  einerseits “Hunger auf mehr” und andererseits: Wo viel ist, gibt es viel zu verlieren. Daher neigen Menschen, die mit viel Geld ausgestattet sind,  nicht weniger zu Korruption als andere. Der Preis ist nur höher.

Alle Menschen, auch deutsche Ärzte, folgen dem Anreizsystem: Vielleicht nicht mit der bestürzenden Rücksichtslosigkeit wie die Augenärzte aus dem Beispiel, aber dennoch… Ein regulierter Markt setzt künstliche Anreize. Zum Beispiel vergüten künstliche Tarifsysteme (EBM, GOÄ) Leistungen zu einem Preis, der geradezu lachhaft niedrig ist. Das setzt den Anreiz, schnell zu sein und möglichst viele Patienten zu “sehen”. Der Hausarzt, der einem Patienten “guten Morgen” wünscht und keine Beratung abrechnet ist ein Dieb seines eigenen Portemonnaies. Dennoch ist das keine korrekte Abrechnung. Ist der Hausarzt ein Betrüger? Vielleicht setzt das System auch nur die falschen Reize.

Die Krankenkassen unterliegen auch Anreizen: Wenn sie für ihre Versicherten bestimmte zusätzliche Diagnosen melden, sie sozusagen kränker machen als sie wirklich sind, bekommen sie mehr Geld aus dem Risikostrukturausgleich. Fast jede zweite Kasse soll sich mit dieser Methode schon bereichert haben, meldet das Bundesversicherungsamt. Sind die Krankenkassen Betrüger?

Das DRG-System setzt auch künstliche Reize und sehr komplexe dazu. Manchmal ist der Anreiz eine bestimmte Nebendiagnose zusätzlich zu verschlüsseln, manchmal ein Gewicht etwas nach unten abzurunden, manchmal einen anderen operativen Zugangsweg zu kodieren. Auch diesen Anreizen werden gefolgt. Sind die Krankenhäuser deshalb Betrüger, wie es die GKV, unterstützt vom MDK immer wieder darstellt?

DRG als Anreizsystem

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Weil die (Fehl-)Anreize des DRG-Systems so kompliziert sind, ist das Nachvollziehen oder die Kontrolle der Abrechnung ebenfalls kompliziert. Es braucht Spezialisten wie Medizincontroller und MDK-Spezialisten in einem Apparat, das immer größer und komplexer wird. Nur um sich mit künstlichen Anreizen aus einem regulierten Markt auseinanderzusetzen. Ein System das Hunderte Seiten Kodierrichtlinien, Tausende Seiten Definitionshandbuch und Zehntausende Prozeduren- und Diagnosenkodes braucht, um Krankenhausleistungen zu vergüten, bietet zu viele Möglichkeiten, die Regeln zu “verbiegen”. Muss es denn so komplex sein?

Ein Blick über die Grenze: In den Niederlanden wurde auch ein DRG-System etabliert: “Diagnose-Behandelings-Combinaties” oder “DBC”. Dieses System, das eine Eigenentwicklung der Niederlande ist, ist sehr viel schlichter als das G-DRG System. Im Wesentlichen wird eine Hauptdiagnose mit ggf. einer operativen Behandlung kombiniert. Dafür gibt es eine pauschale Vergütung, die allerdings alle Behandlungen im Zusammenhang mit der Hauptdiagnose für ein Jahr vergüten soll. Die wichtige Rolle der Nebendiagnosen und komplexe Grouping-Algoritmen, die so typisch sind für das deutsche System, sucht man hier vergeblich. Langliegerzuschläge und Kurzliegerabschläge: Fehlanzeige.

Die Streitigkeiten zwischen Krankenkassen (“Ziekenfondsen”) und Krankenhäusern gibt es hier nicht. Niederländische Ärzte schauen ungläubig, wenn sie hören, dass sich bei uns trotz Ärztemangels Ärzte um die Krankenhausabrechnung kümmern. Ist das System der Nachbarn also besser? Kritik gibt es auch in den Niederlanden; “DBC” wird auch als Abkürzung für “debiler bürokratischer Zirkus” kolportiert. Neben Scherze gibt es auch seriöse Forschungsarbeit zu dem Thema. The European Journal of Health Economics publizierte in ihrer Juni-Ausgabe einen Artikel zur Qualität der Abbildung von Behandlungsfällen durch eine DBC. Eine der Schlussfolgerungen: Man sollte zusätzliche Parameter erfassen, um die Besonderheiten des Falles besser berücksichtigen zu können. Das kennen wir doch: Nebendiagnosen!

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Schlussfolgerung

Das G-DRG System ist durch seine Komplexität zu anfällig für Fehlabrechnungen. Die Ursache dieses Effektes liegt nicht in einer besonderen kriminellen Energie bei der Abrechnung, sondern ist eine Eigenschaft von Anreizsystemen: Menschen folgen den Anreizen. Die Politik schreibt die Regeln, aber wir spielen das Spiel. Es ist empfehlenswert zu prüfen, wo man das System einfacher machen könnte. Bislang waren “Webfehler” im DRG-System immer Anlass für zusätzliche Regelungen, die das System “gerechter” machen sollen, aber immer auch zusätzliche Komplexität einbauen. Als Beispiel können die viele Komplexbehandlungen gelten.

Eine mögliche Vereinfachung könnte die Abschaffung von Kurzliegerabschlägen sein. Der ursprüngliche Sinn, “vorzeitige Entlassung aus wirtschaftlichen Motiven” zu verhindern, wurde von den Bemühungen der Kassen und des MDK sowieso ad absurdum geführt. Dann kann man die Regelung eigentlich auch abschaffen und damit ein riesiges Streitpotential entschärfen.

“Einfachere” DRG-Systeme, wie in den Niederlanden, scheinen aber auch kein Allheilmittel zu sein.

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