“Auffälligkeiten” in der Rechnung

Der dritte Senat des BSG hat sein Urteil vom 16. Mai 2013 (B 3 KR 32/12 R) zur Zulässigkeit von Kassenprüfungen (wir berichteten) begründet. Zur Erinnerung:

Der Fall

Ein Krankenhaus aus dem Landkreis Merseburg-Querfurt (Sachsen-Anhalt) nahm am 20. November 2006 einen Patienten mit Rektumstenose bei M. Crohn auf und führte am 21. November eine endoskopische Dilatation durch. Am nachfolgenden Tag wurde der Patient wieder entlassen. Daraufhin gab es eine Diskussion zwischen Krankenhaus und Kasse:

  1. Die Kasse findet den Fall “auffällig”, sieht insbesondere nicht ein, warum der Eingriff nicht am Aufnahmetag stattfand. Kündigt in einem Schreiben (4 Wochen nach Rechnungslegung) die Rechnungskürzung an.
  2. Der MDK wird nicht eingeschaltet.
  3. Das Krankenhaus antwortet 3 Monate nach Rechnungslegung und verweist auf die Rechtswidrigkeit des Kassenvorgehens.
  4. Die Kasse bleibt bei ihrer Kürzung, legt aber dem Krankenhaus nahe, dem MDK Unterlagen zu schicken, sofern denn ein Grund für die Verweildauer genannt werden könne.
  5. Kurz darauf reicht das Krankenhaus Klage ein. Im Verfahren räumt das Krankenhaus ein, dass es für den präoperativen Tag keine medizinische Notwendigkeit gegeben hat. Dennoch besteht es auf die Verurteilung wegen des Verstoßes gegen Obliegenheiten.

Die Dogmatik des BSG

Selbständige Arbeit als Kodierfachkraft / MD-Managerin / Beraterin.

Klingt das für dich nach einer guten Idee?
Dann ist unser Partnerprogramm für dich gemacht!

Der dritte Senat beruft sich unter Anderem auf zwei Stellen aus Gestzesbegründungen in Zusammenhang mit Fallprüfungen:

[quote style=”boxed”]Aus Drucksache 16/3100: Um einer ungezielten und übermäßigen Einleitung von Begutachtungen entgegenzuwirken, wird mit Satz 3 eine Aufwandspauschale von 100 Euro eingeführt.[/quote] [quote style=”boxed”]Aus Drucksache 14/7862: Klarstellung, dass in Einzelfällen bei Auffälligkeiten auch die Rechnungslegung durch den Medizinischen Dienst geprüft werden kann. Das Verfahren wird ausdrücklich begrenzt auf Fälle, in denen die Krankenkassen einen Anfangsverdacht haben.[/quote]

Fehlende MDK-Begutachtung

Obwohl die Kasse die 6-Wochen-Frist nicht beachtet hat und sogar ganz ohne Hilfe des MDK ermittelt hatte, gibt es in den Augen des BSG kein Beweisverwertungsverbot. Das bedeutet, dass die Tatsache, dass der erste Behandlungstag nicht medizinisch notwendig war, im Urteil berücksichtigt wird. Deshalb hat das Krankenhaus den Prozess auch formal verloren. Dieser logische Salto mortale, den wir in einem früheren Kommentar verwirrend fanden, wird nun erläutert:

Das Krankenhaus hat zugegeben, dass der präoperative Tag nicht begründet war. Damit ist das ein Ergebnis der Ermittlungen des Sozialgerichts und das wird auch bei der Urteilsfindung berücksichtigt. Im Grunde sagt der dritte Senat: Hätte das Krankenhaus weiterhin darauf bestanden, dass die Verweildauer vollumfänglich begründet war, dann wäre das nicht passiert! Dieser Umstand wurde bis jetzt noch in keinem Kommentar zu diesem Urteil erkannt. Wenn nämlich “Aussage gegen Aussage” steht und die Kasse und das Krankenhaus unterschiedlicher Meinung sind, dann kommt es auf die Einhaltung der Prüfverfahren an. Wenn aber das Krankenhaus selbst der Meinung ist, dass es falsch abgerechnet hat, dann nicht mehr. Das ist eine wichtige Erkenntnis, die beim taktischen Verhalten in Fallprüfungen und vor Allem in Gerichtsverfahren berücksichtigt werden muss.

Keine Auffälligkeiten in der Rechnung

Noch spannender ist die Aussage über  zulässige Begründungen für eine Fallprüfung. Einige Kommentatoren haben sich hierüber schon ausgelassen und unterschiedliche Empfehlungen für den praktischen Umgang mit dem Urteil gegeben. Allerdings ist hier Vorsicht die Mutter der Porzellankiste: Ganz so eindeutig ist der dritte Senat nicht. Warum geht es?

  1. Kassen dürfen nicht systematisch gewisse Fallkonstellationen (etwa uGvd gerade erreicht) prüfen, ohne weitere Auffälligkeiten zu benennen, die eine Prüfung begründen.
  2. Es wurden aber in früheren Urteilen schon gewisse Konstellationen benannt, die eine Auffälligkeit begründen. Da nennt das Urteil:
    1. Entlassung an einem Montagvormittag. Bezieht sich auf ein Urteil des ersten Senats: B 1 KN 3/08 R.
    2. Wiederaufnahme einen Tag nach Entlassung. Bezieht sich auf ein Grundsatzurteil zum Beschleunigungsgebot: B 1 KR 24/11 R.
    3. Stationäre Durchführung eines Eingriffs aus dem AOP-Katalog. Bezieht sich auf B 3 KR 28/12 R.
  3. Der Senat betont mehrfach, dass die Kasse sich im Zweifelsfall einer sozialmedizinischen Beratung durch den MDK bedienen soll, um zu entscheiden, ob ein Anfangsverdacht vorliegt.
  4. Wenn sich ein Krankenhaus auf einen fehlenden Anfangsverdacht berufen will, sollte es die Prüfung verweigern.

Im vorliegenden Fall hat sich die Kasse in einer schwierigen Ecke gebracht, weil sie erstens den MDK nicht gefragt hatte und zweitens “ins Blaue” argumentierte (“Sollten Gründe vorliegen, die unsere Auffassung widerlegen, ...”). Das brachte den dritten Senat zu der Aufassung, dass die Kasse überhaupt nicht wusste warum sie den ersten Tag streichen wollte. Es ging allzu offensichtlich um eine rein finanzielle Entscheidung.

Spezielle Fragen zur Kodierung und im MD-Management ohne aufwendige Recherche beantworten?
Unser online Praxis-Handbuch!

Praktische Empfehlungen

Der dritte Senat benennt eine Situation in der das Krankenhaus die Prüfung verweigern sollte: Eine systematische Prüfung weil die Fälle ein abstraktes Kürzungspotenzial enthalten. Der Senat denkt hierbei an die systematische Prüfung von Abrechnungen, weil ihnen eine stationäre Behandlungsdauer an der unteren Grenzverweildauer zugrunde liegt und damit ein hohes Kürzungspotenzial besteht. Wie man nachweisen soll, dass die Prüfung “systematisch”, also nicht nur mit Bezug zum Einzelfall erfolgt, lässt das Gericht offen.

Es benennt aber eine Reihe von “Auffälligkeiten”, die als solche anerkannt werden. Die Liste mutet willkürlich an und lässt die Ableitung von Gesetzmäßigkeiten (außer: “der erste Senat ist strenger als der dritte Senat”) nicht zu. Die Betonung liegt immer wieder auf die Bedeutung sozialmedizinischer Vorberatung durch den MDK. Daher steht zu befürchten, dass eine Vorberatung durch den MDK immer einen Anfangsverdacht begründen kann. Es braucht dann wohl keine weiteren Auffälligkeiten mehr. Es ist sowieso fraglich, ob der erste Senat solche Fälle in Zukunft ähnlich sehen wird. Das Eis ist also äußerst dünn und glatt!

Empfehlungen:

  • Wenn eine Vorberatung stattgefunden hat: Die Prüfung keinesfalls verweigern.
  • Wenn keine Vorberatung stattgefunden hat, der Prüfgrund nur schematisch mitgeteilt wird (am besten: Nur “uGvd”), und eine Reihe derartiger Prüfungen (von derselben Kasse versteht sich!) belegt werden kann, dann kann man überlegen, die Fälle vor Gericht zu testen und ggf. die Prüfung verweigern.
  • Sonst kann man bei der Übersendung von Unterlagen einen Vorbehalt erklären, in der Hoffnung dass es hilft, wenn der Fall sowieso vor einem Gericht enden sollte.
  • Wenn Sie gegenüber der Kasse oder dem Gericht mit einem formalen Verstoß gegen Obliegenheiten argumentieren wollen, dürfen Sie niemals einräumen, dass Sie medizinisch nichts vorzubringen haben. Wenn Sie selbst der Meinung sind, falsch abgerechnet zu haben, dann sollten Sie keine Klage einreichen.

Lesetipp: Unser Kapitel ‘Einleiten der Fallprüfung nach §275’ aus dem Handbuch “Fallprüfungen im Krankenhaus”.

[related_posts limit=”5″ image=“50“]

Online Schulungen Kodierung für Profis und Anfänger?
Schauen Sie sich unsere E-Learning-Angebote an!

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert