Niereninsuffizienz: Sozialrichter als Nephrologe

Martha Kosthorst - NiereninsuffizienzImmer wieder gelingt es dem obersten Sozialgericht in Kassel, uns zu verblüffen. Dieses Mal definiert der erste Senat die akute Niereninsuffizienz. Aber irgendwie anders als alle anderen! B 1 KR 13/14 R vom 23.06.2015.

Dauerbrenner akute Niereninsuffizienz

Seit Jahren streiten sich die Krankenhäuser mit der Kostenträgerseite über die Kodierfähigkeit der akuten Niereninsuffizienz. Die Nebendiagnose N17.9 Akutes Nierenversagen, nicht näher bezeichnet ist (zurzeit noch) stark erlösrelevant.

Beim Patienten mit Volumenmangel (“Austrocknung”) findet sich nicht selten ein erhöhtes Krea als Ausdruck der Schädigung der Nieren, die von einer ausreichenden “Bewässerung” stark abhängig sind. Oftmals ist die Gabe von Flüssigkeit eine ausreichende Behandlung: Die Nierenfunktion normalisiert sich weitgehend.

Das sei zu wenig Behandlung, so argumentiert immer wieder der MDK. Eine Störung der Nierenfunktion durch Austrocknung sei kein “echtes” Nierenversagen. Der Streit ging hin und her, bis letztlich eine Änderung im DIMDI-Katalog 2015 die Sache klarer machte: Es wurden international anerkannte nephrologische Kriterien für die Kodierung der N17.- genannt. Die Kodierung eines prärenales Nierenversagens durch Exsikkose bleibt aber dennoch strittig: Die SEG 4 des MDK und der FoKA der DGfM widersprechen sich.

Jetzt gießt das Bundessozialgericht neues Öl ins Feuer.

Der Fall

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Eine Patientin wird vom 23. bis 29.8.2008 wegen Durchfall und Volumenmangel stationär behandelt. Eine akute Dickdarmentzündung wurde als Ursache ermittelt. Wegen des stark erhöhten Kreatininwertes in Kombination mit abgenommener Diurese, wurde Volumen gegeben.

Bei der Abrechnung wurde eine chronische Niereninsuffizienz (N18.82) kodiert. Der MDK streicht diese Nebendiagnose; später wird stattdessen eine akute Niereninsuffizienz (N17.9) kodiert. Im Ergebnis ändert sich die DRG nicht.

Sowohl das Sozialgericht, als auch das Landessozialgericht sehen das Krankenhaus im Recht. Anders der erste Senat des BSG: Man könne nicht nur den Kreatininwert heranziehen.

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Niereninsuffizienz in den Augen des BSG

Im Jahr 2008 galt noch die Regel (DKR D003d), dass ein Symptom nicht kodiert werde, wenn es im Regelfall als eindeutige und unmittelbare Folge mit der zugrunde liegenden Krankheit vergesellschaftet ist. Allerdings nur, wenn das Symptom kein eigenständiges wichtiges Problem für die medizinische Betreuung darstellte.

2010 wurde diese uneindeutige Formulierung gestrichen: Symptome sind seitdem zu behandeln wie andere Nebendiagnosen auch. Was machen die Kasseler Richter daraus?

Wenn die stark erhöhten Retentionsparameter “neben der Volumentherapie keinen weiteren therapeutischen Aufwand bewirkten“, dann stellen sie ein Symptom des Volumenmangels dar, so die Urteilsbegründung. Unausgesprochen muss man dann noch ergänzen: Dann sind sie auch kein eigenständiges wichtiges Problem für die medizinische Betreuung. Sonst funktioniert die Argumentation des BSG nämlich nicht.

Richtig abenteuerlich wird es, wenn das Gericht zu erläutern versucht, welche (andere) Art von Nierenversagen kodierfähig gewesen wäre (siehe Urteilsbegründung): “…wenn die Versicherte … an einem akuten Nierenversagen litt, das auch ohne Exsikkose und ggf hierdurch bedingte deutlich erhöhte Retentionsparameter eine Volumentherapie erfordert hätte“.

Das Gericht versteht offensichtlich nicht viel von Ursachen und Behandlung eines akuten Nierenversagens. Es versteht nicht, dass man Retentionsparametern nicht ansehen kann, ob sie durch Exsikkose oder durch andere Ursachen erhöht sind. Es versteht auch nicht, dass “Volumentherapie” bei vielen Arten von Nierenversagen kontraindiziert und gefährlich ist. Unwissen über Medizin ist für Juristen selbstverständlich kein Makel; dafür gibt es ja Mediziner. Es wird erst störend, wenn höchstrichterliche Entscheidungen anscheinend aufgrund von medizinischem Halbwissen getroffen werden.

Ein stark erhöhtes Kreatinin ist immer ein eigenständiges wichtiges Problem für die medizinische Betreuung.

Fazit

Zum Glück ist die Beweisaufnahme Sache der vorinstanzlichen Gerichte. Der Fall wurde an das LSG Niedersachsen-Bremen zurückverwiesen. Das hat ins Klassenbuch geschrieben bekommen, dass Feststellungen darüber zu treffen sind, ob die erhöhten Nierenwerte eindeutige und unmittelbare Folge der Exsikkose waren und neben der Volumentherapie keinen weiteren therapeutischen Aufwand bewirkten.

Nebenbei könnte das Celler Landessozialgericht sich vielleicht darüber Gedanken machen, ob die Niereninsuffizienz ein eigenständiges wichtiges Problem für die medizinische Betreuung gewesen ist…

Neben der zusätzlichen und völlig verzichtbaren Verwirrung, die das Bundessozialgericht mal wieder verbreitet hat, sind noch einige “Nebenaussagen” aus der Urteilsbegründung von Interesse:

  • Die Prüfung einer Nebendiagnosenkodierung sei eine sachlich-rechnerische Prüfung und könne keine Aufwandspauschale nach sich ziehen. Das Gericht verfolgt dieser Dogmatik anscheinend trotz der heftigen Kritik, nicht nur seitens der Krankenhäuser, weiter.
  • Das nachträgliche Ändern des Datensatzes (hier Ersetzen der N18.82 durch N17.9) im Rahmen einer Fallprüfung / eines Gerichtsverfahrens ist grundsätzlich zulässig.

Grafik: © Martha Kosthorst – Fotolia

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