Entwöhnung von der Beatmung
Seit Jahren streiten die Kliniken mit dem MDK über die korrekte Zählung der Dauer der Beatmung. Wenn der Patient nicht intubiert wird, sieht der MDK keine Gewöhnung und somit auch keine Entwöhnung. Das bedeutet, dass beatmungsfreie Intervalle laut MDK nicht gezählt werden sollen. Damit ignoriert der MDK den Wortlaut der Kodierrichtlinien.
Heute hat der erste Senat des Bundessozialgerichts dem MDK Recht gegeben:
„Beatmungsfreie Intervalle sind nur als Bestandteil einer gezielten methodischen Entwöhnungsbehandlung zur Beatmungszeit hinzuzurechnen, die bei maschineller Beatmung aufgrund einer Gewöhnung erforderlich sein kann.“(Pressemitteilung zu B 1 KR 18/17 R)
Ein Jurist will medizinischer Experte sein
Auch für den ersten Senat zählen die Kodierrichtlinien also nicht. Eine klare, wenn auch nicht besonders gelungene Regelung, wird nunmehr von einem Juristen mit medizinischem Halbwissen ausgehebelt. Wir dürfen gespannt sein, ob es dem Gericht gelingt, in der schriftlichen Begründung eine brauchbare Definition einer Gewöhnung an die Beatmung zu liefern. Da ein Richter gemeinhin nur wenig praktische Erfahrung auf Intensivstationen aufweisen kann, sollten wir (mal wieder) nicht zu viel erwarten.
Bekanntlich hat der Senatspräsident den unwiderstehlichen Drang, Sachverhalte, die sich weit von der juristischen Lebenswirklichkeit abspielen, eigenständig beurteilen zu wollen.
„Die Folge ist, dass man in typischer Weise, wenn es um Abrechnungsfragen geht, als Gericht nicht Beweis durch Sachverständigen erhebt. Wenn Sie das machen treten Sie ihre Entscheidungshoheit an einen Mediziner ab.“ Prof. Hauck auf einer Tagung der Niedersächsischen Krankenhausgesellschaft 17.11.17
Der Redner vergisst scheinbar, dass das Wort „Sachverständiger“ von Sachverstand kommt. Eigentlich nichts Neues; spätestens seit 2015, als der erste Senat die Niereninsuffizienz neu definierte, wissen wir bescheid: Offenbar getrieben von einem tief verwurzelten Misstrauen gegen Ärzte und Krankenhäuser meint mancher Bundesrichter, er müsse auch Bundesmediziner sein.
Die Rolle der Selbstverwaltung
Ein enttäuschendes Urteil, das den Kassen einmal mehr eine Carte Blanche gibt, Krankenhäuser um die Vergütung teurer Behandlungen zu prellen. Dabei sollten wir jedoch nicht aus den Augen verlieren, dass das Versagen der Selbstverwaltung diese Art von Rechtsprechung erst möglich macht. Es ist Aufgabe der Selbstverwaltung und nicht der Gerichte, solche Streitthemen zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern rechtzeitig aufzulösen. Warum wurde die entsprechende Kodierrichtlinie 1001 nicht mit Unterstützung vom InEK überarbeitet? Das Problem besteht seit Jahren, man blieb aber untätig.
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Die Rolle der Kassen
Sogar die Krankenkassen, die seit Jahren von einer verfehlten Rechtsprechung des BSG bevorzugt werden, können nicht wirklich daran interessiert sein, dass quasi rechtsfreie Räume geschaffen werden. Aus Wettbewerbsgründen sehen sich Kassen schon jetzt genötigt, die Zitrone mindestens genau so sehr auszuquetschen, wie es andere vormachen. Am Ende fordern die Kostenträger immer mehr Milliarden aus „falschen Rechnungen“ von den Krankenhäusern zurück. Diese Verluste gehen zu Lasten der sowieso schon restriktiven Krankenhausbudgets. So findet eine stille Umverteilung von den notleidenden Krankenhäusern in Richtung „Privatkonten“ der Krankenkassen statt. Der Gesundheitsfonds wird mit diesem Zubrot geschickt umgangen.
Das Solidarsystem ist nicht dafür gedacht, die Leistungserbringer mit höchstrichterlicher Hilfe langsam ausbluten zu lassen. Die immer zunehmende Rechtsunsicherheit verschlingt Gelder: Man denke an die Aufrüstung des MDK und des Medizincontrollings in den Krankenhäusern auf der Gegenseite. Und sie verschlingt Zeit durch immer maßlosere Prüfquoten, die insbesondere bei der AOK in verschiedenen Bundesländern deutlich über 30 % liegen.
Das Solidarsystem soll an erster Stelle den Versicherten Gesundheitsleistungen gewähren. Dazu ist eine auskömmliche Finanzierung erforderlich. Nicht nur der Krankenkassen, sondern auch der Leistungserbringer, wie zum Beispiel Krankenhäuser.
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