Rückwirkung von Urteilen des BSG

Insbesondere der erste Senat des Bundessozialgerichtes ist für “überraschende Einsichten” bekannt. Immer wieder werden in Fragen der korrekten Abrechnung von Krankenhausaufenthalten Urteile gefällt, die für den unbedarften Laien nicht mit der entsprechenden Gesetzesnorm kompatibel erscheinen. So werden die Regeln regelmäßig “umgeschrieben”; Leistungserbringer und Kostenträger können sich sicher sein, dass nichts was sicher erscheint, auch wirklich sicher ist. “Rechtsunsicherheit” nennt man diesen Zustand.

Rechtssicherheit
Wesentliche Strukturelemente eines auf diesem Prinzip aufbauenden Rechtsstaats sind Rechtsklarheit, Verlässlichkeit, Berechenbarkeit und Erkennbarkeit des Rechts, womit der Bürger vor gesetzlicher, richterlicher oder verwaltungsrechtlicher Überforderung beziehungsweise Überraschung geschützt werden soll. Dem Bürger darf es nicht unnötig erschwert werden, sich innerhalb des Rechtsrahmens rechtstreu zu verhalten (Vertrauensschutz). – Wikipedia

Rückwirkung

Für die Wirksamkeit neuer Gesetzgebung ist ein Rückwirkungsverbot definiert. Seine Wurzeln liegen u. A. im Grundgesetz (Art. 20) und in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 7). In nahezu allen rechtsstaatlichen Systemen, mit Ausnahme der Schweiz, darf ein Gesetz nicht rückwirkend in Kraft treten. Nun könnte man meinen, das uns dieses Rechtsstaatsprinzip zumindest vor einer Rückwirkenden Gültigkeit der verblüffenden Urteile des BSG schützen könnte.

Für Rechtsprechung gilt dieses Gebot jedoch nicht. Das ist auch eigentlich logisch: Ein Richter interpretiert (erklärt?) den Gesetzestext in seinen Urteilen, aber er schreibt keine neue Rechtsnorm. Eigentlich.

Wenn ein Bundesrichter, über den es keine Revisionsinstanz mehr gibt, ein Gesetz für falsch hält, könnte er in die Versuchung kommen, sein eigenes “Richterrecht” zu schreiben. Dann ergehen manchmal Urteile, die für die Bürger völlig überraschend und von der Rechtsnorm keineswegs gedeckt sind. Wenn man zum Beispiel an die Aufwandspauschale und die “sachlich-rechnerische Richtigkeit” von Krankenhausrechnungen denkt. Im Gesetz nicht vorgesehen und in der Praxis nie verwendet. Vom BSG aus dem Ärmel gezaubert, um eine ungeliebte Rechtsnorm (§ 275 Abs. 1c SGB V) auszuhebeln.

Wenn solche Urteile geschrieben werden, ist dann eine Rückwirkung immer noch mit dem Prinzip der Rechtssicherheit vereinbar? Prof. Hauck, Präsident des ersten Senats BSG, meint: Ja. Viele Instanzgerichte sind sich da nicht so sicher…

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Die Fragen um die Aufwandspauschale verlieren langsam an Dringlichkeit. Dafür gibt es einige neuere problematische Urteile, die eine Rückwirkung befürchten lassen.

Transportentfernung bei der Schlaganfallbehandlung

Das Bundessozialgericht hat im Juni 2018 ein Urteil gesprochen, das die Komplexbehandlung des akuten Schlaganfalls komplett aus dem Rennen wirft. Eine neue Definition der halbstündigen Transportentfernung, die kein Krankenhaus jemals erfüllt hat oder jemals erfüllen könnte. DIMDI hat schnell reagiert und die Definition im OPS “angeschärft”. Problem gelöst? Vielleicht. Grundsätzlich könnten die Kassen alle Komplexbehandlungen (8-981.- und 8-98b.-) vier Jahre rückwirkend streichen wollen. Warten wir auf die Post, die uns im November / Dezember zugehen wird.

Geriatrische Komplexbehandlung

Ende 2017 hat das BSG die Teambesprechung bei der geriatrischen frührehabilitativen Komplexbehandlung völlig überraschend neu definiert (B1 KR 19/17 R vom 19.12.2019). Plötzlich ist die Teilnahme aller Berufsgruppen, die im OPS erwähnt werden, verpflichtend. Auch wenn diese gar nicht an der Behandlung beteiligt sind. Auch diese Auflage hat vorher kein Krankenhaus erfüllt. Das wurde von Kassen und MDK auch nicht erwartet, weil es nicht sinnvoll ist. Bis jetzt also. Auch hier werden wir am Jahresende sehen, welche Kassen sich auf das gefundene Fressen werfen.

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Rechtsprechung

Es gibt mittlerweile schon einige Urteile zum Thema. Allerdings fehlt bis heute ein höchstrichterliches Urteil dazu. Ein Griff in die Sozialrechtskiste:

  • LSG Nordrhein-Westfalen zum Thema Geriatrie: Das BSG hat festgelegt, dass nicht das “biologische” sondern das kalendarische Alter entscheidend ist für die Frage, ob ein Patient einer geriatrischen Behandlung bedurft hat, oder nicht. Auf Deutsch: Bei Patienten unter 60 darf keine geriatrische Komplexbehandlung abgerechnet werden. Das LSG bestätigt, dass diese Rechtsprechung rückwirkend Geltung hat (L 5 KR 537/17 vom 22.02.2018).
  • SG Aachen zur sachlich-rechnerischen Richtigkeit:  Aufgrund der unerwarteten Änderung der Rechtslage unterliegt hier auch die Rechtsprechung des BSG einem Rückwirkungsverbot (S 14 KR 515/17 vom 10.07.2018).
  • SG Reutlingen zur sachlich-rechnerischen Richtigkeit:  Aufgrund der (vorher) gefestigten Rechtsprechung unterliegt in diesem Fall die Rechtsprechung des BSG wegen des Grundsatzes von Treu und Glauben einem Rückwirkungsverbot (S 1 KR 3632/16 vom 14.03.2018).
  • LSG Bayern zur sachlich-rechnerischen Richtigkeit: Geht davon aus, dass in diesem Fall ein Rückwirkungsverbot besteht. Der beklagten Kasse (Knappschaft) wird vorgehalten, dass ihre Vorgehensweise rechtsmissbräuchlich sei. “Diese Vorgehensweise (nachträgliche Rückforderung der AWP Anm. d. Verf.) der Beklagten sei dem SG aus zahlreichen anderen Verfahren bekannt.L 20 KR 133/17 NZB vom 12.07.2017.

In der Summe sieht das also nicht schlecht aus! Aber um mit Wilhelm Busch zu sprechen: Wehe wehe wehe, wenn ich auf das Ende sehe!! Das BSG wird wohl wieder das letzte Wort haben.
Illustration: © sk_design – Fotolia

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