Fiktives wirtschaftliches Alternativverhalten

Fiktives wirtschaftliches Alternativverhalten

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Im Jahr 2014 hat das BSG erstmals ein “fiktives wirtschaftliches Alternativverhalten” konstruiert, das dazu dienen soll, Fallzusammenführungen zu erzwingen. Wie ist der aktuelle Stand? Wie gehen Gerichte und Gesetzgeber mit diesem Konstrukt um?

Dem Wesen nach geht es um “Fallsplitting”: Eine nicht abgeschlossene Behandlung willkürlich in zwei Abschnitte aufteilen, um so zweimal eine Rechnung zu legen. Die Fallpauschalenvereinbarung (FPV) kennt bekanntlich Regelungen für Fallzusammenführungen. Allerdings sind diese strikt nach eindeutigen kalendarischen Kriterien geregelt und vermeiden (zu Recht!) schwammige Formulierungen wie “nicht abgeschlossene Behandlung”.

Der erste Senat des BSG hat in mehreren Urteilen beschrieben, dass eine Entlassung eigentlich als Beurlaubung gewertet wird, wenn die Behandlung nicht abgeschlossen gewesen sei (B 1 KR 3/15 R vom 10.03.15, B 1 KR 62/12 R vom 01.07.2014, B 1 KR 29/16 R vom 28.03.2017). Dabei sollen die Regelungen des FPV keine Rolle spielen.

Aus der Urteilsbegründung B 1 KR 29/16 R vom 28.03.2017:
“Soweit die Behandlung kostengünstiger durch einen stationären Aufenthalt statt durch zwei stationäre Behandlungsepisoden tatsächlich möglich ist und medizinische Gründe nicht entgegenstehen, hat das Krankenhaus seine Behandlungsplanung zwingend daran auszurichten.”

Frage an Prof. Hauck
“Ich finde interessant, dass sie gesagt haben, dass der Zwischenraum überschaubar sein muss. Ihr Urteil wird derzeit von den Krankenkassen so interpretiert, dass zum Beispiel Patienten, die eine Frakturversorgung bekommen und dann geplant nach 8 Wochen eine Teil-Metallentfernung bekommen, bei einem wirtschaftlichen Alternativverhalten nur beurlaubt gewesen wären. Das sehen Sie doch nicht auch so?”

Antwort Prof. Hauck
“Nein, das will ich auch gleich dazu sagen: Das ist leider eine missliche Erfahrung, die wir auch machen. Wenn wir etwas entscheiden, dann wird von dem konkreten Sachverhalt extrapoliert. Dann heißt es: alle Fälle sind jetzt so. Nein! Nicht alle Fälle sind jetzt so! Sondern nur da, wo sich das entsprechend anbietet. …”

So ist klar, das nichts klar ist und Prof. Hauck sich missverstanden fühlt.

Urteile der Instanzgerichte

Es existieren verschiedene Urteile, die sich mit dem fiktiven wirtschaftlichen Alternativverhalten beschäftigen. Ein Griff aus der Schatulle:

  • LSG Hessen L 8 KR 64/15 vom 26.01.2017 (rechtskräftig): Malignes Melanom wird diagnostiziert. Die weitere Behandlung (OP) wird geplant und die Einwilligung unterschrieben. Dann erfolgt die Entlassung. Zwei Tage später Wiederaufnahme zur Durchführung der OP. Ergebnis: Fallzusammenführung aus wirtschaftlichen Gründen.
  • SG Nürnberg S 11 KR 649/17 vom 07.11.2018 (nicht rechtskräftig): Stabilisierung zweier Wirbelkörper bei Befall durch Plasmozytom. Dabei wird festgestellt, dass die Oberschenkel ebenfalls ebenfalls instabil sind und eine Behandlung empfohlen. Der Patient verweigert die Behandlung, u. a. weil der Mondkalender für Eingriffe gerade ungünstig sei. Er wird entlassen. 12 Tage später erneute Aufnahme und Stabilisierung der intertrochantären Region. Ergebnis: Keine Fallzusammenführung. Hauptargumente: Die Behandlung der Wirbelsäule war abgeschlossen. Eine Beurlaubung setzt den Wunsch des Versicherten nach Beurlaubung (und nicht Entlassung) voraus.
  • LSG Nordrhein-Westfalen L 1 KR 358/15 vom 06.12.2016: Ein Mama-Ca wird operiert. Der Schnellschnitt ergibt “saubere” Wundränder; die Patientin wird vor Eingang der definitiven Histologie entlassen. Wider Erwarten wird eine Mikro-Metastase im Sentinel-Lymphknoten gefunden. 12 Tage nach Entlassung (!) wird die Patientin zur weiteren operativen Behandlung erneut aufgenommen. Das Gericht bestätigt die Fallzusammenführung aus wirtschaftlichen Gründen. Die Argumentation des 1. Senats geht aus unserer Sicht in die Irre. Das SG Münster hatte in der ersten Instanz argumentiert, dass es keinen medizinischen Grund für die weitere Behandlung gab und bestätigte die Abrechnung des Krankenhauses. Das LSG dreht die Argumentation um und lässt sich von einem Gutachter bestätigen, dass es keinen zwingenden medizinischen Grund für die Entlassung gab. Die Patientin hätte problemlos im Krankenhaus auf das Ergebnis der endgültigen Histologie warten können. Damit stellt das Gericht das Wirtschaftlichkeitsgebot von den Füßen auf den Kopf: Eigentlich soll eine Behandlung nur ausreichend sein (§ 12 SGB V) und nicht grundlos andauern, bis ein “zwingender medizinischer Grund” für die Beendigung vorliegt.

Der Gesetzgeber

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Mal wieder sah sich der Gesetzgeber genötigt, ein Durcheinander, das die Rechtsprechung des ersten Senats BSG in schönem Regelmaß anrichtet, per Gesetz einzufangen (siehe unsere Publikation zu dem Thema). Seit dem 01.01.2019 gilt die folgende Regelung im § 8 Abs. 5 KHEntgG:

“In anderen als den vertraglich oder gesetzlich bestimmten Fällen ist eine Fallzusammenführung insbesondere aus Gründen des Wirtschaftlichkeitsgebots nicht zulässig.”

Damit ist die Sache zumindest für Behandlungsfälle mit dem Aufnahmedatum ab dem 01.01.2019 geklärt: Es gilt ausschließlich die FPV.

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Fälle mit Aufnahme zwischen dem 01.07.2014 und dem 31.12.2018

Hier gilt möglicherweise ein fiktives wirtschaftliches Alternativverhalten als Grund für eine Fallzusammenführung. Dabei gilt es, sich gegen eine allzu großzügige Interpretation der Regelung zu wehren (siehe obiges Zitat Prof. Hauck). Die Fälle, in denen der erste Senat eine Fallzusammenführung aus Gründen der Wirtschaftlichkeit verlangt hat betrafen:

  • Wiederaufnahmen innerhalb von höchstens 10 Tagen.
  • Diagnostik eines Tumors (mehrere Fälle) mit einer nachfolgenden Therapie (Operation).
  • Ein Herzinfarkt (1 Fall) mit einer Entlassung für wenige Tage, bevor eine Koronarangiographie durchgeführt wurde.

Gilt die Regelung auch rückwirkend?

Seit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (26.11.2018) ist deutlich, dass die “Rechtsauslegungen” des ersten Senats zwar manchmal radikal vom Gesetzestext abweichen und nicht immer nachvollziehbar sein mögen. Einen besonderen Rechtsschutz lösen sie dennoch nicht aus.

Heißt auf Deutsch: Die Urteile des ersten Senats sind auch rückwirkend gültig. In dieser Lesart gab es auch schon vor dem 01.07.2014 ein fiktives wirtschaftliches Alternativverhalten. Wir wussten es nur noch nicht, weil das BSG es uns noch nicht erklärt hatte. Amen.
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