NIV-Beatmung reloaded

© herjuha

Die Gewöhnung / Entwöhnung der Beatmung und die Bedeutung für die anrechenbare Dauer der Beatmung ist seit einem überraschenden Grundsatzurteil des BSG (B 1 KR 18/17 R vom 19.12.17) ein Thema. Jetzt hat das LSG Baden-Württemberg den betreffenden Fall (zusammen mit zwei weiteren Fällen) mit NIV-Beatmung erneut beurteilt. Das Gericht setzt sich mit den Vorgaben des BSG auseinander und zieht teilweise Schlüsse, die wieder neue Fragen aufwerfen.

Wir waren dabei…

Der Fall: NIV-Beatmung

Ein Patient (Jahrgang 1966) wird auf der Intensivstation mit Maske beatmet (NIV). Insgesamt werden 113 Stunden gezählt, wobei auch die beatmungsfreien Intervalle mitgezählt werden. Der MDK prüft den Fall und kommt auf 77 Beatmungsstunden (reine “Maschinenstunden”). Damit folgt der MDK den internen Vorgaben der SEG 4.

Die Instanzgerichte (SG Ulm und LSG BW) beurteilen die Beatmungsstunden strikt nach der DKR 1001 und zählen die beatmungsfreien Intervalle im Rahmen einer Entwöhnung mit: Das Krankenhaus gewinnt die Verfahren (“obsiegt”).

Das Bundessozialgericht hebt jedoch das Urteil aus Stuttgart auf und verweist den Fall zurück an das LSG: Das Gericht habe, so der erste Senat des BSG, keine Feststellungen über eine vorausgehende Gewöhnung getroffen. Bevor eine “Entwöhnung” angenommen werden dürfe, müsse eine “Gewöhnung” stattgefunden haben.

Jetzt entscheidet der 11. Senat des LSG erneut in dem Fall (L 11 KR 717/18 vom 23.07.2019): Eine Gewöhnung kann nicht festgestellt werden. Das Krankenhaus verliert das Verfahren nun endgültig.

Im zweiten Fall (L 11 KR 858/18 vom 23.07.2019) ist die Sachlage ähnlich. Deshalb wurde die Entscheidung für beide Fälle zusammen getroffen. Der dritte Fall (L 11 KR 2934/17 vom 23.07.2019) beschäftigt sich mit der Entwöhnung eines heimbeatmeten Patienten von dem Beatmungsgerät der Intensivstation auf das Heimbeatmungsgerät. Auch in diesem Fall werden – für die Entscheidung – die Vorgaben des BSG umgesetzt.

Vorgaben des BSG

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Was genau eine Gewöhnung sein kann, die eine Entwöhnung begründen könne, ist nicht ganz klar. Das BSG definiert Gewöhnung:

“die erhebliche Einschränkung oder den Verlust der Fähigkeit, über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen zu können.”

Laut des Urteilstextes erfordert eine Entwöhnung den (teilweisen) Verlust der Fähigkeit ausreichend selbständig zu atmen aufgrund der vorhergehenden Beatmung. Es reicht dazu nicht etwa eine akute Ateminsuffizienz durch eine Krankheit aus:

“Es genügt hierfür nicht, dass sich der Patient nicht an eine erfolgte maschinelle Beatmung gewöhnt hat, aber aus anderen Gründen – etwa wegen einer noch nicht hinreichend antibiotisch beherrschten Sepsis – nach Intervallen mit Spontanatmung wieder maschinelle NIV-Beatmung erhält, um solche Intervalle in die Beatmungszeit einzubeziehen.”

Das ist nicht gerade eine klare Definition. Klarer ausgedrückt – wenn auch frei erfunden und komplett ohne medizinischen Hintergrund – war der Versuch der SEG 4 des MDS, dem BSG kurz vor der Urteilsverkündung eine Steilvorlage zu geben (KDE 584 Weaning): Die Experten der Kostenträgerseite entschieden, dass ein Patient erst entwöhnt werden könne, wenn er vorher 48 Stunden kontinuierlich beatmet wurde. Diese willkürliche Vorgabe wurde bis heute (zum Glück) von keinem Gericht ernsthaft aufgegriffen.

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Umsetzung durch das LSG Baden-Württemberg

Im zweiten Verfahren hat das LSG BW den Fall gestern erneut entschieden, dieses Mal zum Nachteil des Krankenhauses. Zur mündlichen Begründung führt der vorsitzende Richter aus:

“die Notwendigkeit einer maschinellen Beatmung muss sich aus einer Gewöhnung ergeben und darf nicht durch die Grunderkrankung bedingt sein.”

Das ist eine Interpretation, die unseres Erachtens über den Urteilstext des BSG hinaus geht: Das BSG stellt lediglich fest, dass eine Entwöhnung stattfindet, wenn die (erneute) Beatmung nicht durch eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes begründet wird.

Die Ausführungen des LSG kann man so verstehen, dass die Ateminsuffizienz nicht auf eine Grunderkrankung zurückführbar sein dürfe. Das ist sicherlich nicht angemessen. Ein Beispiel:

Schädel-Hirn-Trauma

Ein Patient wird nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma mit traumatischem SAB und Kontusionsherd invasiv beatmet. Nach drei Wochen erholt sich der Patient sehr langsam; es setzt die Spontanatmung ein. Die Entwöhnung dauert bei immer noch beeinträchtigtem Bewusstsein lange und wird von einer Pneumonie kompliziert. Die Dekanülierung gelingt erstmals nach fünf Wochen.

Die Dauer der Entwöhnung wird primär durch die Bewusstseinslage und durch die interkurrente Pneumonie bedingt. Soll es sich deswegen trotzdem nicht um eine Entwöhnung i. S. der DKR 1001 handeln? Wohl kaum.

Schlussfolgerung

  • Was ist Gewöhnung?

    Das BSG definiert eher schwammig (Verlust der Fähigkeit vollständig ohne maschinelle Beatmung auszukommen); das LSG BW macht daraus eine Beatmungsabhängigkeit, die ausschließlich durch vorhergehende Beatmung verursacht wird. In der Summe ist die Lage noch nicht restlos klar.

  • Weaning-OPS

    Wahrscheinlich hilft auch der Einsatz des neuen Weaning-Kodes (8-718.-) hier nicht weiter. Wenn gemäß OPS ein Weaning durchgeführt wird, ist damit eine “Gewöhnung” nach Lesart des BSG noch nicht belegt.

  • NIV-Beatmung

    Praktisch werden beatmungsfreie Intervalle einer von Anfang an diskontinuierlichen NIV-Beatmung nicht gezählt. Das ist für sich genommen eine gut umsetzbare und auch inhaltlich angemessene Umsetzung der klinischen Realität. Allerdings wäre es gut gewesen, wenn die Selbstverwaltung ihre Arbeit gemacht und die Kodierrichtlinie entsprechend angepasst hätte.

Hinweis: Das BSG wird am 30.07.19 über die Berechnung von HFNC als Beatmungszeit bei Neugeborenen entscheiden (siehe Ankündigung).

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