Landessozialgericht Sachsen-Anhalt L 10 KR 13/06

Landessozialgericht Sachsen-Anhalt

Urteil vom 17.06.2010 (nicht rechtskräftig)

Sozialgericht Dessau-Roßlau S 6 KR 14/02
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt L 10 KR 13/06

Das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 28. Februar 2006 wird aufgehoben und die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte den Kläger mit einer ambulanten Botulinumtoxin A (BTA)-Therapie zur Behandlung eines Adduktorenspasmus des Oberschenkels (Spastik der Muskeln an der Innenseite der Oberschenkel, die dazu dienen, die Beine an die Mittellinie des Körpers zu führen) zu versorgen hat.

Botulinumtoxin ist ein bakterielles Gift, das die Erregungsübertragung vom Nerv auf den Muskel hemmt. Entsprechende Arzneimittel werden in überaktive Muskeln gespritzt und führen so zu einer künstlichen Lähmung des Muskels. Die Wirkung setzt nach ein bis zwei Wochen ein und hält durchschnittlich drei Monate an. Es kommt also nicht zu einer Heilung, sondern lediglich zu einer Behandlung von Symptomen, die bei Nachlassen der Wirkung wieder zum Vorschein kommen.

Verschiedene Präparate der Toxinformen A und B sind für unterschiedliche Indikationen zugelassen: Das Präparat Botox (BTA) ist zugelassen für die Behandlung von: – Blepharospasmus (Lidkrampf), hemifazialem Spasmus (halbseitig auf das Gesicht bezogenem Spasmus) und koexistierenden fokalen Dystonien (von einem Herd ausgehende fehlerhafte Muskelspannungen) – idiopathischer rotatorischer zervikaler Dystonie (Torticollis spasmodicus = spastischer Schiefhals) – fokaler Spastizität: – in Zusammenhang mit dynamischer Spitzfußstellung infolge von Spastizität bei Patienten mit infantiler Zerebralparese ab dem zweiten Lebensjahr – des Handgelenkes und der Hand bei erwachsenen Schlaganfallpatienten – starker, fortbestehender primärer Hyperhidrosis axillaris (Steigerung der Schweißabsonderung in den Achseln), die störende Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens hat und mit einer topischen Behandlung nicht ausreichend kontrolliert werden kann. Das Medikament Dysport (BTA) ist zusätzlich zu einigen der genannten Indikationen auch zur symptomatischen Behandlung einer Armspastik bei Erwachsenen in Folge eines Schlaganfalls zugelassen.

Der am … 1954 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Er leidet seit frühester Kindheit an einer spastischen Paraparese (unvollständige Lähmung zweier symmetrischer Extremitäten) bei infantiler Zerebralparese (frühkindliche Hirnschädigung) sowie Schwerhörigkeit.

Am 15. August 2001 ging bei der Beklagten ein Kostenübernahmeantrag für eine ambulante BTA-Therapie im Bereich der unteren Extremitäten für den Kläger ein, der von den Ärzten der Neurologischen Universitätsklinik M. Prof. Dr. W. , Direktor der Klinik, Dr. B. , Oberarzt, sowie Dr. S., Fachärztin für Neurologie, gestellt und begründet wurde. Der Kläger beklage seit 1992 eine Verschlechterung der Gangstörung mit Zunahme der Spastik sowie Schmerzen im Bereich beider Beine von stechendem, reißendem Schmerzcharakter mit Betonung der Innenseite der Oberschenkel. Da trotz antispastischer Therapie mit Baclofen sowie angepasster Schmerztherapie keine ausreichende Besserung des ausgeprägten Adduktorenspasmus und der Schmerzen in beiden Beinen habe erreicht werden können, sei im Mai 2001 erstmals eine BTA-Therapie des am schwersten betroffenen linken Beines erfolgt, die zu einer guten Besserung der Spastik geführt habe. Das Gangbild habe sich verbessert, die einschießenden Schmerzen seien verschwunden und der Patient habe nachts wieder durchschlafen können. Da die Wirkung dieses Mittels jedoch nur drei Monate anhalte, werde um eine Kostenzusage für die ambulante Durchführung der BTA-Injektionen an den unteren Extremitäten gebeten. Die Therapiemöglichkeiten der Spastik und der Schmerzen seien ansonsten ausgeschöpft und eine Verschlechterung des Gangbildes und Zunahme der Coxarthrose mit Gefahr der Hüftluxation werde ohne diese Therapie unvermeidlich eintreten. Die spastikbedingten Schmerzen im Bereich der Beine führten zudem zu einer starken Beeinträchtigung der Lebensqualität, Schlafstörungen und zunehmend höher dosiertem Schmerzmittelgebrauch. Die Wirksamkeit von BTA bei einer Behandlung der Spastik sei in vielen Studien belegt und auch in ihrer Klinik habe man mit der BTA-Therapie bei Spastik der oberen und unteren Extremitäten gute Erfolge erreicht.

Der Kläger nahm die begehrte Behandlung in der Universitätsklinik M. an folgenden Terminen stationär auf Kosten der Beklagten in Anspruch: – vom 2x.08. bis 0x.09.2001 – vom 1x.12. bis 1x.12.2001 – vom 0x.03. bis 0x.03.2002 – vom 3x.09. bis 0x.10.2002 – vom 1x.07. bis 1x.07.2003 – vom 0x.04. bis 0x.04.2005. In einem von der Beklagten veranlassten Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Sachsen-Anhalt (MDK) führte Dr. B. aus, BTA sei für das vorliegende Krankheitsbild einer spastischen Paraparese bei infantiler Zerebralparese nicht zugelassen. In der Literatur werde zwar in zahlreichen Fällen die positive Wirkung von BTA bei Spastizität dokumentiert, es handele sich jedoch überwiegend um kleine Fallzahlen und die Frage nach Nebenwirkungen und Langzeiteffekten der Therapie müsse derzeit noch als ungeklärt eingestuft werden. Über Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln lägen keine ausreichenden Studien vor. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung könne daher die medizinische Indikation zur Kostenübernahme für eine ambulante BTA-Therapie nicht abgeleitet werden.

Nachdem die Beklagte das Begehren des Klägers mit Bescheid der Beklagten vom 7. September 2001 und Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 2002 (zur Post gegeben am 21. Januar 2002) abschlägig beschieden hatte, hat der Kläger am 21. Februar 2002 Klage beim Sozialgericht Dessau-Roßlau erhoben. Er hat ausgeführt, die Spastik seiner Beinmuskulatur habe sich bis 2001 so weit verschlechtert, dass ihm ein Rollstuhl verordnet worden sei. Aufgrund der Behandlung mit BTA könne er heute unter Zuhilfenahme von Unterarmstützen wieder eigenständig laufen und sei im Wesentlichen schmerzfrei. Nebenwirkungen seien nicht zu verzeichnen. Er müsse aber nach der Injektion jeweils weitere vier Tage im Krankenhaus verweilen, was bei einer ambulanten Behandlung entfallen könne. Da er auch an einem Spitzfuß bei infantiler Zerebralparese leide und hierfür die Behandlung mit BTA zugelassen sei, erfolge eine entsprechende regelmäßige ambulante Therapie mit beachtlichen Erfolgen. Die gleichzeitige stationäre Behandlung der Oberschenkelspastik mit BTA durch verschiedene Ärzte berge die Gefahr von Überdosierungen und erhöhe die Gefahr der Nebenwirkungen und der Bildung von Antikörpern gegen BTA, die jegliche weitere Behandlung hiermit ausschließen würde. Ihm drohe dann unweigerlich der Rollstuhl. Bei regelmäßiger Gabe von BTA könne demgegenüber das Injektionsfenster auf mindestens 16 Wochen ausgedehnt und die Dosierung deutlich verringert werden. Die therapeutische Wirkung sei nicht nur durch seine Behandlung, sondern auch die anderer Patienten mit gleichem Krankheitsbild sowie durch die einschlägige Fachliteratur nachgewiesen. Die vorliegende Versagung verstoße zudem gegen den Gleichheitsgrundsatz, da ihm aus anderen Bundesländern, insbesondere aus Niedersachsen, solche Behandlungen bekannt seien.

Er hat das Konsensus Statement des Arbeitskreises Botulinumtoxin e.V. der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur fokalen Behandlung der Spastizität mit BTA übersandt. Darin ist ausgeführt, 20 Jahre nach der Einführung intramuskulärer Injektionen von BTA zur Behandlung fokaler Dystonien in der Kopf-Hals-Region habe sich Indikationsstellung, Wirkung und Sicherheit dieser Behandlungsform bei vielen hundert Patienten bewährt. Prinzipiell sei die Wirksamkeit von BTA zur fokalen Behandlung der Spastizität in allen betroffenen Körperregionen plausibel und wissenschaftlich begründet. Die Unterzeichner erachteten die fokale Behandlung der Spastizität mit BTA als effektive und nebenwirkungsarme Therapiemaßnahme, die wissenschaftlich adäquat begründet sei. Die Kriterien für einen kostenerstattungsfähigen Einsatz seien gegeben. Die Therapie mit BTA sollte nur in Angriff genommen werden, wenn: – eine angemessene Personal- und Sachausstattung verfügbar sei, – ein adäquates Programm für das Rehabilitationsmanagement nach Verabreichen der Injektion genutzt werden könne, – die Auswahl der Patienten für die Behandlung mit BTA bestimmt werde durch: – das Verteilungsmuster der Spastizität, – die dynamische spastische Komponente – eindeutig definierte therapeutische Zielsetzungen und – die Kooperativität und psychophysische Fähigkeit des Patienten, diese Therapieziele zu erreichen, – die Patienten zusammen mit ihren Familien und Pflegepersonen umfassend informiert und die Therapieziele in Übereinstimmung festgelegt worden seien, – die durchführenden Ärzte über Erfahrungen in der Diagnostik und dem Management der Spastizität sowie in der Anwendung von BTA verfügten, – im Anschluss an eine BTA-Injektion ein therapeutisches Programm durchgeführt werde, zu dem krankengymnastische Übungen und/oder der Einsatz von Regressionsmaßnahmen gehörten. Für den Einsatz bei Spastizität im gesamten Dosisspektrum sei ein nachgewiesenes Dosisverhältnis nicht etabliert. Bei der fokal betonten Spastizität sei BTA der systemischen Therapie in Regel überlegen und daher einer oralen Behandlung vorzuziehen. Die fokale BTA-Behandlung bei Paraspastik der Beine könne auch zusätzlich zur intrathekalen Baclofengabe mittels Pumpensystem sinnvoll sein, z.B. um eine Dosisredzierung des Baclofens und dadurch eine Minderung z.B. zentraler Nebenwirkung durch Baclofen zu erreichen. Das klinische BTA-Behandlungsteam sollte eine formelle Bewertung der klinischen Behandlungsresultate durchführen und dokumentieren. Das Statement wurde von sieben Professoren unterzeichnet. Die Beklagte hat ausgeführt, eine durch Spastik bedingte Gangstörung bei Erwachsenen sei kein sehr seltenes Krankheitsbild. Bei guten Chancen auf eine erweiterte Zulassung würde daher der Arzneimittelhersteller diese auch beantragen. Werde aber aus gutem Grund von einem entsprechenden Erweiterungsantrag abgesehen, dürfe dies nicht durch eine Kostenübernahme im Einzelfall unterlaufen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei der Erfolg in Einzelfällen nicht entscheidend. Bei BTA handele es sich um ein Nervengift, das bei unsachgemäßer Anwendung oder Langzeitanwendung zum Untergang von Nervengewebe führen könne. Nach Auskunft des Bundesamtes für Arzneimittel vom 8. November 2002 seien die Studien aus regulatorischer Sicht zum Teil mit erheblichen methodischen Mängeln behaftet und könnten nur als Hypothesen generierend angesehen werden. Die Beklagte hat zudem auf § 35 b Abs. 3 und 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) verwiesen, der zum 1. Januar 2004 in Kraft getreten sei. Damit habe der Gesetzgeber auf die unerträgliche Situation reagiert, dass die Krankenkassen zu Ersatzzulassungsbehörden für Arzneimittel gemacht würden.

Das Sozialgericht hat verschiedene Befundberichte eingeholt. Der behandelnde Orthopäde H. hat im März 2002 ausgeführt, unter kontinuierlich angewendeten intensiven therapeutischen Maßnahmen der Schulmedizin sei eine deutliche Verschlechterung des Beschwerdebildes und des Belastungsprofils eingetreten. Alle denkbaren schulmedizinischen Behandlungsmethoden seien ausgeschöpft. Die BTA-Behandlung werde von der Uni-Klinik M. seit Jahren mit gutem Erfolg praktiziert und es sei von einer sachgemäßen, ärztlich kompetenten Anwendung dieser risikoreichen Therapieart auszugehen, durch die der Kläger eine deutliche Beschwerdelinderung erfahren habe. In den meisten Fällen der dort behandelten Patienten habe eine Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung erreicht werden können.

Die Fachärzte für Allgemeinmedizin K. und F. haben von einer Zunahme der Beschwerden seit Anfang 2001 sowie von einer deutlichen Besserung jeweils nach den BTA-Injektionen berichtet. Der Rollstuhl sei dem Kläger im Oktober 2001 wegen zunehmender Verschlechterung seines Gehvermögens verordnet worden. Gravierende Nebenwirkungen der Behandlung mit BTA seien bisher nicht aufgetreten. Sie haben verschiedene Arztbriefe der Universitätsklinik M. , Klinik für Neurologie, aus der Zeit von Juni 2001 bis März 2002 beigefügt.

Dr. S. und Prof. Dr. W. von der Uniklinik M. haben ebenfalls eine gute Besserung der Spastik insbesondere der ausgeprägten Schmerzen im Bereich der Oberschenkel sowie eine leichte Besserung des Gangbildes jeweils nach der Behandlung mit BTA für drei Monate bestätigt. Bei bekannter Coxarthrose drohe des weiteren eine Hüftluxation, wenn sich die Spastik weiter verschlechtere.

Auf eine Nachfrage des Gerichts hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte im November 2002 mitgeteilt, ein Zulassungserweiterungsantrag für fertige Arzneimittel, die als wirksamen Bestandteil Clostridium Botulinumtoxin Typ A enthalten, liege lediglich für die Zulassung der Teilindikation “zur Behandlung der Axillären Hyperhidrose” vor. Eine Behandlung der Adduktoren im Hüftbereich oder von Muskelgruppen im Kniegelenk erfolge außerhalb des Indikationsbereiches. Zulassungsanträge lägen hierzu nicht vor. In der orthopädischen und neurologischen Fachliteratur seien zwar zahlreiche Studien zur fokalen Therapie spastischer Syndrome unterschiedlicher Ätiologie publiziert, die auch eine Besserung der Spastik und ihrer Folgen außerhalb der zugelassenen Anwendungsgebiete wahrscheinlich erscheinen ließen, diese Studien basierten aber lediglich auf Hypothesen und seien zum Teil mit erheblichen methodischen Mängeln behaftet. BTA werde allerdings in der neurologischen oder orthopädischen Rehabilitation von Patienten mit spastischen Symptomen nicht selten “off-label” eingesetzt.

Der Arneimittelhersteller Merz Pharmaceuticals hat auf Nachfrage des Gerichts eine Stellungnahme des Arbeitskreises Botulinumtoxin zur Kostenerstattung von Botox bei “Off-label-Indikationen” durch die gesetzliche Krankenversicherung und die Publikation eines Konsensus-Statements einer europäischen Expertengruppe übersandt.

Der Arzneimittelhersteller Allergan hat ebenfalls mitgeteilt, dass für den Einsatz von Botox an Muskelgruppen des Beines, die nicht die Behandlung der Spitzfußstellung bei fokaler Spastizität im Rahmen der infantilen Zerebralparese betreffen, derzeit keine Zulassung vorliege, wohl aber eine Vielzahl von klinischen Studien, die mit hohem Evidenzgrad (Level I: Doppelblinde, plazebokontrollierte, randomisierte Studien) die Wirksamkeit und Sicherheit von Botox an diesen Muskelgruppen überzeugend belegten.

Schließlich hat das Sozialgericht ein Gutachten von Dr. N. , Neurologische Klinik und Poliklinik der M.-Universität H. vom 27. April 2004 eingeholt. Der Gutachter hat ausgeführt, aufgrund der Befunde sei die Behandlung mit BTA zweckmäßig. Der Wirkungsmechanismus dieses Präparates sei bei den zugelassenen Indikationen “Arm- und Handspastik nach Schlaganfall” und “Spastischer Spitzfuß bei infantiler Zerebralparese” analog dem der hier vorliegenden spastischen Paraparese bei infantiler Zerebralparese. Die Behandlung einer Armspastik “ohne Bedeutung der Ursache” mit BTA sei unter anderem in Belgien, Norwegen, Portugal, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Spanien und Schweden zugelassen. Eine Beinspastik “ohne Bedeutung der Ursache” dürfe in Italien mit BTA behandelt werden. Durch die Lähmungen und das spastische Syndrom der Beine werde die Lebensqualität des Klägers aufgrund der Sekundärschäden am knöchernen Apparat (Coxarthrose und Pseudoradikulärsyndrom) und der sich dadurch verstärkenden Spastik, verbunden mit insbesondere in Ruhe und nachts einschießenden (schmerzhaften) Spasmen, beeinträchtigt. Dieser Zirkelschluss könne durch BTA deutlich gelindert werden. Trotz der zusätzlich bestehenden analgetischen und antispastischen Begleitmedikation sei bei Abbruch der BTA-Therapie neben einer Gangverschlechterung eine Chronifizierung des Schmerzsyndroms zu befürchten. Die gute Wirksamkeit des Wirkstoffes bei der Behandlung der Beinspastik bei Erwachsenen werde in zahlreichen Veröffentlichungen mit größeren und kleineren Fallzahlen belegt. Der Gutachter verweist auf die Ausführungen des “Arbeitskreis Botulinumtoxin e.V.” als Expertengruppe.

Die Beklagte hat hierzu ausgeführt, es gebe keine Erfahrungen mit der Langzeitwirkung des Nervengiftes, das bei unsachgemäßer Anwendung oder Langzeitanwendung zum Untergang von Nervengewebe führen könne.

Das Sozialgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 28. Februar 2006 unter der Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides antragsgemäß verpflichtet, dem Kläger eine ambulante BTA-Therapie im Bereich der unteren Extremitäten zur Behandlung der spastischen Paraparese bei infantiler Zerebralparese als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewähren. Der Kläger leide an einer Erkrankung, die seine Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtige. Nach dem Gutachten des Facharztes für Neurologie Dr. N. ständen keine gleichwertigen Behandlungsalternativen zur Verfügung. Schließlich bestehe aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden könne. Nach dem genannten Gutachten sowie dem vom Kläger vorgelegten Konsensusstatement des Arbeitskreises Botulinumtoxin e.V. gebe es auch veröffentlichte Erkenntnisse, die eine Wirksamkeit des Medikamentes auch zur Behandlung von zerebralbedingten Lähmungserscheinungen des gesamten Beines hinreichend belegten. Zu berücksichtigen sei, dass die Wirkungsweise bei der Behandlung von Lähmungen der Oberschenkelmuskulatur dieselbe sei wie bei der Behandlung von Lähmungen der Unterschenkelmuskulatur. Durch die zum 1. Januar 2004 in Kraft getretene Vorschrift des § 35 b SGB V habe sich hieran nichts geändert.

Gegen das der Beklagten am 14. März 2006 zugestellte Urteil hat diese am 6. April 2006 Berufung eingelegt. Der Gutachter Dr. N. habe die Frage nach gleichwertigen Behandlungsalternativen offen gelassen, da auch nach seinen Ausführungen eine standardisierte analgetische und antispastische Therapie bestehe und der Kläger regelmäßig physiotherapeutisch behandelt werde. Entscheidend sei jedoch, dass aufgrund der Datenlage nicht die begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg bestehe. Der Gutachter habe sich auf zwei randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Studien hinsichtlich der Behandlung der Beinspastik des Erwachsenen mit Botulinumtoxin aus den Jahren 2000 gestützt. Die publizierten Studien seien aber nach der Stellungnahme des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte aus November 2001 zum Teil mit erheblichen methodischen Mängeln behaftet. Zudem fehlten dem Gutachten Angaben zu Erfahrungen mit der Langzeitwirkung. Die Stellungnahme des Arbeitskreises Botulinumtoxin e.V. könne nicht die erforderlichen Studien ersetzen. Solche Stellungnahmen orientierten sich an der für die Expertengruppe günstigen Datenlage und leiteten hieraus Handlungsempfehlungen ab. Anerkannte internationale Leitlinien, die für die Bewertung einer Studienlage richtungsweisend seien, seien hiervon abzugrenzen. Wenn die Zulassungserweiterung von Botox nicht beantragt werde, könne dies nur daran liegen, dass die Studien nach wie vor nicht die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Einsatzes von BTA bei der Behandlung der Spastik außerhalb des bisherigen Zulassungsbereiches in einem regulären Zulassungsverfahren nachweisen könnten. Frühkindliche Hirnschäden oder Multiple Sklerose mit der Folge einer Arm- und/oder Beinspastik seien keine seltenen Erkrankungen. Entsprechend intensiv würden auch im Internet die Anwendungen von BTA bei der Arm- und Beinspastik propagiert.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dessau vom 28. Februar 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

In der Stellungnahme des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte vom November 2001 werde nicht direkt auf die im Gutachten angeführten randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten Studien Bezug genommen, so dass bei diesen Studien nicht von erheblichen methodischen Mängeln ausgegangen werden könne. Zudem seien in der Zwischenzeit weitere Studien erhoben worden, die die bisherigen Erkenntnisse bestätigten. Aus den Stellungnahmen des Arbeitskreises Botulinumtoxin ergäben sich auch Erkenntnisse in Bezug auf die Langzeitwirkung. Auch die Wirksamkeit des Medikamentes zur Behandlung von zerebralbedingten Lähmungserscheinungen des gesamten Beines sei damit hinreichend belegt. Bei den Ausführungen der Beklagten, ein fehlender Antrag auf Zulassungserweiterung könne nur auf fehlende Studien zur Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Präparates in diesem Indikationsbereich zurück zu führen sein, handele es sich ausschließlich um Spekulationen. Aufgrund der Beinspastik habe sich der Kläger inzwischen auch einer Hüfttransplantation unterziehen müssen und für Mai 2009 sei auch die Erneuerung des rechten Hüftgelenkes geplant. Der Kläger hat nochmals auf die Zulassung in verschiedenen anderen europäischen Ländern hingewiesen und noch eine Stellungnahme des Arbeitskreises Botulinumtoxin e.V. in der Fassung vom 4. Mai 2006 vorgelegt.

Auf Nachfrage des Senats hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte im September 2007 zu dem Arzneimittel Botox mit dem Wirkstoff Botulinumtoxin A mitgeteilt, gegenwärtig verfügten 20 Arzneimittel über eine Zulassung oder eine Genehmigung für das Inverkehrbringen. Auf die weitere Nachfrage des Senats, ob die Zulassung von Anfang an nur für die eingeschränkten Indikationen beantragt worden sei, hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte mit Schreiben vom 4. März 2009 mitgeteilt, bezüglich der Behandlung der Spastizität bei infantiler Zerebralparese reichten die bisher eingereichten Daten für eine weiterreichende Indikation nicht aus. In den Leitlinien zur neurologischen Diagnostik und Therapie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (www.DGN.org) seien für die Behandlung der Spastik mit BTA gemäß den Empfehlungen nationaler und europäischer Konsensusgruppen verschiedene Indikationen aufgeführt, unter anderen die spinale Adduktorenspastik, z.B. bei Multipler Sklerose sowie die Frührehabilitation der spastischen Fehlstellung an den Beinen, um dauerhafte Kontrakturen, Schmerzen und Sekundärschäden zu vermeiden.

Die Arzneimittelfirma Allergan hat mit Schreiben vom 16. April 2009 mitgeteilt, die Zulassung sei aus ökonomischen Gründen von Anfang an auf die bekannten Indikationen beschränkt gewesen, da hier die Rekrutierung einer ausreichenden Zahl an Patienten am schnellsten und sichersten zu erreichen gewesen sei. Die Einschränkung sei nicht im Hinblick auf eine zu erwartende geringere Wirksamkeit in anderen Indikationen erfolgt. Veröffentlichungen zum “Off-Label-Use” bei Patienten mit infantiler Zerebralparese belegten die Wirksamkeit auch bei anderen Formen der Spastik. Auf eine weitere Nachfrage hat die Firma mit Schreiben vom 3. Dezember 2009 mitgeteilt, eine Zulassungserweiterung nach § 25 b AMG sei noch nicht beantragt worden.

Die Oberärztin der Neurologischen Universitätsklinik M. Dr. B. , die die oben genannten stationären BTA-Behandlungen des Klägers durchgeführt hat, hat mit Schreiben vom 12. April 2010 mitgeteilt, die Injektionen mit BTA in die Adduktorenmuskulatur seien in der Zeit von August 2001 bis März 2002 in dreimonatigen Abständen im Rahmen stationärer Aufenthalte erfolgt. Wegen der unklaren Kostenfrage sei es dann zu einigen Verzögerungen bei der Behandlung gekommen, bis es im Juni 2003 zu der Absprache gekommen sei, die Behandlung vorläufig weiter stationär durchzuführen. Der Kläger habe sich nach einer Begutachtung im Rahmen des Rechtsstreites im Oktober 2003 zur Fortsetzung der Behandlung im Rahmen stationärer Aufenthalte wieder in der Klinik vorstellen wollen, sich tatsächlich aber erst im April 2005 wieder vorgestellt. Die zwischenzeitlich eingetretene deutliche Gangverschlechterung erkläre sich durch eine Ausweitung der Paraspastik nach distal unter Einbeziehung der Fußstrecker mit Innenrotation des Fußes und deutlicher Spitzfußbildung. Die BTA-Injektionen seien daraufhin in die Adduktoren und zusätzlich in die Unterschenkelmuskulatur zur Behandlung des spastischen Spitzfußes erfolgt. Im Mai und Juli 2005 habe dann die ausgeprägte Spitzfußstellung im Vordergrund gestanden, so dass sie sich zur Fortsetzung der BTA-Injektionen im Bereich des spastischen Spitzfußes entschlossen hätten, die in dreimonatigen Abständen – zuletzt am 30. Juli 2009 mit einer Gesamtdosis von 300 Units – ambulant erfolgt seien. Die Behandlung habe immer eine deutliche Schmerzlinderung und eine Besserung der Spastik bewirkt. Für die Adduktoren sei eine höhere Dosierung erforderlich, als für die Unterschenkelmuskulatur zur Behandlung des Spitzfußes. Wegen möglicher systemischer und lokaler Nebenwirkungen sei die Dosierung zu limitieren und die Behandlung sollte sich möglichst auf ein fokales spastisches Problem beschränken. Da in den letzten Jahren die spastische Spitzfußstellung im Vordergrund gestanden habe, sei diese auch behandelt worden. Über eine Gesamtdosis von 600 Units würde sie derzeit nicht hinausgehen. Aufgrund analoger Wirkmechanismen gebe es für die Beschränkung der Zulassung keine medizinische Erklärung. Die Adduktorenspastik bestehe beim Kläger fort, und es könnten jederzeit erneute Injektionen in die Adduktorenmuskulatur notwendig werden.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143, 151 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerechte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten ist begründet.

Dem Kläger fehlt zwar nicht bereits das Rechtschutzbedürfnis für die Klage. Obwohl die begehrte Behandlung offensichtlich seit der letzten stationär durchgeführten BTA-Therapie im April 2005 medizinisch nicht mehr erforderlich war, ist insoweit nach den Ausführungen der behandelnden Oberärztin Dr. B. jedoch davon auszugehen, dass aufgrund der fortbestehenden Adduktorenspastik jederzeit erneute Injektionen in die Adduktorenmuskulatur für notwendig erachtet werden. Der Kläger kann dann nicht auf die Durchführung eines erneuten Klageverfahrens verwiesen werden. Andernfalls müsste sein Antrag als vorbeugende Feststellungsklage ausgelegt werden. Mit dieser Klageart soll ein künftiger nachteiliger Verwaltungsakt schon im Voraus verhindert werden. Das hierfür notwendige speziell auf die Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtsschutzes gerichtete Rechtsschutzinteresse liegt hier vor. Es ist nicht zumutbar, den Kläger auf den nachträglichen Rechtsschutz zu verweisen, da angesichts der Gesundheitsgefährdung ein sonst nicht wieder gut zu machender Schaden entsteht (vgl. BSG 26. September 1991 – 4 RK 5/91 BSGE 69, 255, 256 = SozR 3-1300 § 48 Nr 13; BSG 7. November 1991 – 12 RK 49/89 SozR 3-2940 § 7 Nr 2).

Die Berufung der Beklagten ist jedoch begründet, weil der Kläger von der Beklagten nicht die Versorgung mit einer ambulanten BTA-Therapie zur Behandlung seiner Adduktorenspastik im Bereich des Oberschenkels verlangen kann. Der Bescheid der Beklagten in der Fassung des Widerspruchsbescheides ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen sind. Bei den für die begehrte BTA-Therapie in Betracht kommenden Medikamenten handelt es sich um verschreibungspflichtige Arzneimittel, die nicht durch Richtlinien von der Versorgung ausgeschlossen sind.

Der Behandlungs- und Versorgungsanspruch eines Versicherten umfasst aber nach § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Für eine Leistungspflicht der Beklagten genügt es nicht, dass die streitige Therapie im Fall des Klägers nach Einschätzung der behandelnden Ärzte positiv verlaufen ist und sie diese befürworten (vgl. st. Rspr. d. BSG, vgl. nur Urt. v. 26. September 2009 – B 1 KR 14/06 R zum Arzneimittel Cabaseril oder Urt, v. 19. Oktober 2004 – B 1 KR 27/02 zur PDT mit Verteporfin). Ein Fertigarzneimittel wird nur dann vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst, wenn es für das Indikationsgebiet, in dem es angewendet werden soll, arzneimittelrechtlich zugelassen ist. Fehlt die nach § 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz (AMG) erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung, fällt es mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit nicht in den Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. BSG, Urteil vom 26. September 2006 – B 1 KR 14/06 R).

Nach § 21 Abs. 1 AMG dürfen Fertigarzneimittel, die Arzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 oder Abs. 2 Nr. 1 AMG sind, in der Bundesrepublik Deutschland nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie durch die zuständige Bundesoberbehörde zugelassen sind oder wenn für sie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften oder der Rat der Europäischen Union eine Genehmigung für das Inverkehrbringen gemäß Art. 3 Abs. 1 oder 2 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer europäischen Arzneimittel-Agentur erteilt hat. Die arzneimittelrechtliche Zulassung bezieht sich nur auf das konkret in der Zulassung bezeichnete Anwendungsgebiet, denn bei einer Erweiterung des Anwendungsgebietes ist grundsätzlich eine neue Zulassung zu beantragen (§ 29 Abs. 3 Nr. 3 AMG, vgl. auch BSG, Urt. v. 19.03.2002 – B 1 KR 37/00 R- BSGE 89,184 ff; BSG, Urt. v. 26.09.2006 – B 1 KR 14/06 R). Eine arzneimittelrechtliche Zulassung im vorbezeichneten Sinne besteht somit nur, wenn das Fertigarzneimittel die Zulassung gerade für dasjenige Indikationsgebiet besitzt, in dem es im konkreten Fall eingesetzt werden soll.

Für die Behandlung der Adduktorenspastik im Bereich der Oberschenkel bei infantiler Zerebralparese fehlt den BTA-Präparaten die Zulassung in Deutschland oder eine europaweite Zulassung. Die nach dem AMG in Deutschland erteilte Zulassung ist bei fokaler Spastizität auf die dynamische Spitzfußstellung bei Patienten mit infantiler Zerebralparese sowie das Handgelenk und die Hand bei erwachsenen Schlaganfallpatienten begrenzt. Wenn Dr. N. in seinem Gutachten vom 27. April 2004 ausführt, in Italien dürfe eine Beinspastik ohne Bedeutung der Ursache mit BTA behandelt werden, so wird aus dieser Formulierung nicht deutlich, ob damit eine entsprechende arzneimittelrechtliche Zulassung gemeint ist. Denn eine zulassungsüberschreitende Anwendung ist auch in Deutschland nicht grundsätzlich verboten. Es besteht nur grundsätzlich kein Versorgungsanspruch gegen die gesetzliche Krankenversicherung. Aber auch wenn in Italien eine entsprechende Zulassung vorliegen sollte, entfaltet diese nicht zugleich auch entsprechende Rechtswirkungen in Deutschland. Weder das deutsche Recht noch das Europarecht sehen eine solche Erweiterung der Rechtswirkungen der nur von nationalen Behörden erteilten Zulassungen ohne ein entsprechendes vom Hersteller eingeleitetes sowie positiv beschiedenes Antragsverfahren vor (st. Rspr., vgl. z. B. BSG, Urt. v. 27. März 2007 – B 1 KR 30/06 R, Urteilssammlung der Krankenversicherung (USK) 2007, 36 mit weiteren Nachweisen (m. w. N.); LSG NRW, Urt. v. 3. April 2008 – L 5 KR 115/07). Die Arzneimittelfirma Allergan hat auch keinen Antrag auf Erweiterung der Zulassung gestellt, obwohl das Unternehmen diese bei einer Genehmigung oder Zulassung in einem anderen europäischen Staat nach § 25 b Abs. 2 AMG unter erleichterten Bedingungen erreichen könnte.

Der Kläger kann die Versorgung mit einer ambulanten BTA-Therapie zur Behandlung der Adduktorenspastik auch nicht nach den Grundsätzen des sogenannten “Off-Label-Use”, das bedeutet bei zulassungsüberschreitender Anwendung, beanspruchen. Es handelt sich nicht um einen sogenannten Seltenhaltsfall, der nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nur angenommen werden kann, wenn sich die zugrundeliegende Erkrankung einer systematischen Erforschung entzieht (vgl. dazu BSG E 93,236 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 1 jeweils Rd-Nr. 21 – Visudyne). Die Erkrankung einer spastischen Paraparese bei infantiler Zerebralparese, bei der die Spastik insbesondere auch die Adduktoren der Oberschenkelmuskulatur betrifft, ist leider weit verbreitet und es gibt bereits zahlreiche Studien zur Erforschung dieser Erkrankung.

Liegt ein solcher Seltenheitsfall – wie hier – nicht vor, kommt die Versorgung eines Patienten mit einem Medikament in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen des “Off-Label-Use” zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich nur in Betracht, wenn es sich 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.

Bei der Anwendung eines Fertigarzneimittels außerhalb des zugelassenen Indikationsgebietes wird das Medikament ohne die arzneimittelrechtlich vorgesehene Kontrolle der Sicherheit und Qualität eingesetzt. Zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung kann ein solcher Einsatz von Arzneimitteln nur unter ganz besonderen Voraussetzungen gerechtfertigt sein. Die arzneimittelrechtliche Qualitäts- und Sicherheitskontrolle dient in erster Linie dem Schutz der Patienten vor inakzeptablen, unkalkulierbaren Risiken für die Gesundheit. Deshalb können Ausnahmen von der Zulassungsvoraussetzung nur in engen Grenzen aufgrund einer Güterabwägung anerkannt werden, die der Gefahr einer krankenversicherungsrechtlichen Umgehung arzneimittelrechtlicher Zulassungserfordernisse entgegenwirkt, die Anforderungen des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung an Qualität und Wirksamkeit der Arzneimittel (§ 2 Abs. 1 und 12 Abs. 1 SGB V) beachtet und den Funktionsdefiziten des Arzneimittelrechts in Fällen eines unabweisbaren, anders nicht zu befriedigenden Bedarfs Rechnung trägt (vgl. hierzu Urteil des BSG vom 26. September 2006 – B 1 KR 14/06 R mit weiteren Nachweisen).

Der Kläger leidet zwar in diesem Sinne an einer schwerwiegenden Erkrankung, die seine Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt, da die Spastik im Bereich der Oberschenkelmuskulatur mit erheblichen Schmerzen, massiven Schlafstörungen und daraus resultierenden körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen verbunden ist.

Die Voraussetzungen für einen “Off-Label-Use” zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung sind dennoch nicht erfüllt, da für eine ambulante BTA-Therapie zur Behandlung einer Adduktorenspastik im Bereich der Oberschenkel bisher keine hinreichend begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg nachweisbar ist.

Von einer hinreichend begründeten Aussicht auf einen Behandlungserfolg kann nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ausgegangen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder – die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder – außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorhandenen Sinne besteht.

Diese Voraussetzungen knüpfen an die arzneimittelrechtlichen Zulassungsvoraussetzungen der §§ 21 ff. AMG an und berücksichtigen u.a., dass für den Regelfall des § 22 Abs. 2 AMG das Arzneimittel nach dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ausreichend geprüft und die angegebene therapeutische Wirksamkeit nach dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse vom Antragsteller zureichend begründet sein muss (vgl. im Einzelnen § 25 Abs. 2 Nr. 2 und 4 AMG), um mit den Zulassungsunterlagen Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Mittels hinreichend darzutun. Mit dem unbestimmten Rechtsbegriff des “jeweils gesicherten Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse” verweist der Gesetzgeber auf außerrechtliche Erkenntnissquellen, um sicher zu stellen, dass die Zulassung im Interesse der Arzneimittelsicherheit auf der Grundlage des jeweils aktuellen Wissenstandes erfolgt.

Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung vom 26. September 2006 (B 1 KR 14/06 R) ausführlich die drei Phasen der klinischen Prüfung bis zur Zulassungserteilung dargestellt. Danach wird in einer ersten Phase zunächst an einer kleinen Zahl gesunder Probanden die Verträglichkeit der Substanz beim Menschen untersucht und in einer zweiten Phase die pharmakodynamische Wirkung des Arzneimittels therapeutisch bzw. diagnostisch an einer begrenzten Zahl von etwa 100 bis 200 Patienten zu objektivieren versucht. Die Studie der Phase II dient dazu, Hinweise auf erwünschte und unerwünschte Wirkungen, die Indikationen und Kontraindikationen zu finden sowie die richtige Dosierung des Arzneimittels zu ermitteln. In der Phase III-Studie sollen die in der Phase II-Studie gefundenen Hinweise Bestätigung finden. Erst diese Studie dient dem eigentlichen Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Substanz.

Zu einer abgeschlossenen, veröffentlichten Studie der Phase III zur Behandlung der Adduktorenspastik mit BTA ist es bisher nicht gekommen. Die Erweiterung der Zulassung auf diese Indikation ist nicht beantragt worden und mangels einer ausreichenden Studie fehlt es an hinreichenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über den Behandlungserfolg für eine zulassungsüberschreitende Therapie mit BTA-Präparaten.

Die Ausführungen des Gutachters Dr. N. , der Wirkmechanismus des Präparates entspreche bei der beim Kläger vorliegenden spastischen Paraparese bei infantiler Zerebralparese dem der zugelassenen Indikationen, sind zwar für den Senat nachvollziehbar, es fehlen aber hinreichende Erkenntnisse zu Dosierung und Nebenwirkungen für den Adduktorenspasmus. Botulinum-Toxin ist ein hochwirksames neurotoxisches Protein und damit ein Nervengift. Die Anwendungsgebiete, für die bisher eine Zulassung erfolgt ist, betreffen deutlich kleinere Muskelgruppen als die Adduktoren der Oberschenkel. Die Muskelgruppen, die bei einem Lidkrampf oder auf das Gesicht bezogenen Spasmus, beim Schiefhals oder bei der Spitzfußstellung, beim Handgelenk oder der Hand und auch bei der Armspastik bei Erwachsenen betroffen sind, sind jeweils erheblich kleiner, als die von der Spastik betroffenen Adduktoren des Oberschenkels. Es ist daher nachvollziehbar, wenn die Oberärztin der Neurologischen Universitätsklinik M. Dr. B. ausführt, für die vom Kläger begehrte BTA-Therapie zur Behandlung der Adduktorenspastik sei eine höhere Dosierung erforderlich, als für die Unterschenkelmuskulatur zur Behandlung des Spitzfußes. Die Nebenwirkungen, die bei Anwendung von BTA in hoher Dosierung und möglicherweise über einen längeren Zeitraum auftreten können, sind bisher nicht hinreichend erforscht. Auch zur Dosierung, insbesondere wenn – wie beim Kläger – zusätzlich BTA-Injektionen in die Unterschenkelmuskulatur zur Behandlung des spastischen Spitzfußes notwendig werden, liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Die Frage, wie lange eine BTA-Therapie in der zur Behandlung der Adduktorenspastik erforderlichen hohen Dosierung im Hinblick auf mögliche Nebenwirkungen gerechtfertigt erscheint, ist ebenso unklar wie mögliche langfristige Nebenwirkungen bei hoher Dosierung und ggf. gleichzeitiger Behandlungen in verschiedenen Anwendungsbereichen. Auch die Deutsche Gesellschaft für Neurologie, die eine fokale Behandlung der Spastizität mit BTA als effektive und nebenwirkungsarme Therapiemaßnahme grundsätzlich befürwortet, stellt an den Einsatz der Therapie erhebliche Anforderungen. Das verdeutlicht das Gefahrenpotential des indikationsüberschreitenden Einsatzes dieser Präparate ebenso wie die dabei noch herrschende Unsicherheit der Experten. Zudem erscheint die Gewährleistung der dort genannten Anforderungen an eine zulassungsüberschreitende Anwendung von BTA-Präparaten im Rahmen von ambulanten Behandlungen so schwierig, dass eine stationäre Behandlung vorzuziehen ist, jedenfalls solange keine hinreichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen. Gerade im Hinblick auf das erhebliche Risiko, das mit dem Einsatz von BTA-Präparaten verbunden ist, bietet eine stationäre Behandlung für den Patienten eine höhere Sicherheit als eine ambulante, da das Botulinum-Antitoxin in größeren Krankenhäusern zum Notfalldepot gehört. Bei der stationären Behandlung muss das Krankenhaus die Behandlungsunterlagen der bisher erfolgten ambulanten Behandlung soweit erforderlich beiziehen und kann aufgrund der umfassenden Erkenntnisse gemeinsam mit dem über die Risiken hinreichend aufgeklärten Patienten einen möglichen zulassungsüberschreitenden Einsatz des Medikamentes abstimmen. Wenn eine Krankenhausbehandlung beispielsweise im Rahmen einer Schmerzbehandlung erforderlich ist, kann daher – wie bisher – eine stationäre Krankenhausbehandlung auf Kosten der Beklagten erfolgen, in deren Rahmen die behandelnden Krankenhausärzte im eigenen Verantwortungs- und Risikobereich entscheiden, ob und in welchem Anwendungsgebiet und mit welchem Umfang BTA-Präparate zur Behandlung des Klägers eingesetzt werden. Ein “Off-Label-Use” ist den behandelnden Krankenhausärzten nicht untersagt, es kann aber auf der Grundlage der gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse keine generelle Pflicht der Beklagten ausgesprochen werden, dem Kläger diese Behandlung im Wege der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung zu gewähren.

Eine Leistungspflicht der Beklagten ergibt sich auch nicht aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 (1 BVR 347/98 = SozR4-2500 § 27 Nr. 5). Dies setzt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung voraus, die beim Kläger – trotz seiner schweren Erkrankung – nicht vorliegt. Zudem fehlt es an einer Aussicht auf Heilung der Erkrankung, da mit der BTA Therapie lediglich eine Behandlung von Symptomen erfolgt, die bei Nachlassen der Wirkung wieder zum Vorschein kommen. Eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf ist ebenfalls aufgrund der beschriebenen erheblichen Risiken beim Einsatz dieses Medikamentes nicht mit hinreichender Sicherheit zu erwarten.

Das Begehren des Klägers ist nicht auf eine ambulante Krankenhausbehandlung nach § 116 Abs. 2 bis 4 SGB V gerichtet. Aus seinem Vortrag ergibt sich vielmehr, dass er die ambulante Behandlung bei den ihn behandelnden Ärzten in Anspruch nehmen möchte. Die Universitätsklinik M. , bei der der Kläger in Behandlung ist, hat zur Behandlung der Erkrankungen des Klägers keine vertragliche Ermächtigung nach § 116 b Abs. 2 bis 4 SGB V. Hierzu bedarf ein zugelassenes Krankenhaus eines Vertrages über die ambulante Erbringung hochspezialisierter Leistungen oder zur Behandlung seltener Erkrankungen und Erkrankungen mit besonderen Krankheitsverläufen, sofern diese Leistungen und Behandlungen in dem Katalog des § 116 b Abs. 3 SGB V enthalten sind. In den Verträgen ist das Nähere über die Durchführung der Versorgung, insbesondere der Nachweis der Einhaltung der sächlichen und personellen Anforderungen an die ambulante Leistungserbringung des Krankenhauses, zu regeln (§ 116 b Abs. 2 SGB V). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urt. v. 27.03.2007 – B 1 KR 25/06 R – zitiert nach juris) gelten die rechtlichen Grenzen, die § 135 Abs. 1 SGB V vertragsärztlichen Leistungen zieht, bei einer ambulanten Krankenhausbehandlung nach § 116 b Abs. 2 bis 4 SGB V nicht in gleicher Weise. Da es aber in Bezug auf die Erkrankungen des Klägers an einem solchen Vertrag mit der Universitätsklinik M. oder einem sonstigen Krankenhaus in Wohnortnähe des Klägers fehlt, hatte der Senat nicht darüber zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen bei einer ambulanten Krankenhausbehandlung nach § 116 b Abs. 2 bis 4 SGB V auch eine “Off-Label”-Behandlung auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden kann. Demgegenüber umfasst sein Antrag zwar auch die ambulante Behandlung in der Universitätsklinik M. , nach Auffassung des Senats kann aber eine ambulante “Off-Label”-Behandlung nicht in Hochschulambulanzen nach § 117 SGB V unter erleichterten Bedingungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden. Hierzu fehlt es im Rahmen des § 117 SGB V an einer dem § 116 b Abs. 3 Satz 2 SGB V entsprechenden Regelung, auf die sich das Bundessozialgericht zur Begründung der Erweiterung der Leistungsgrenzen über § 135 Abs. 1 SGB V hinaus maßgeblich stützt. Allein aus der Vorschrift des § 120 Abs. 2 SGB V, der die Vergütung der Leistungen der Hochschulambulanzen, psychiatrischen Institutsambulanzen und der sozialpädiatrischen Zentren gesondert regelt, kann keine Erweiterung der Leistungsgrenzen über § 135 Abs. 1 SGB V hinaus abgeleitet werden. Soweit “eine Abstimmung mit Entgelten für vergleichbare Leistungen” vorgesehen ist, legt dies zwar nahe, dass auch Leistungen erbracht werden dürfen, die so in der vertragsärztlichen Versorgung nicht vorgesehen sind. Dies spricht aber noch nicht für die Zulässigkeit von “Off-Label”-Behandlungen, da es beispielsweise auch in der integrierten Versorgung zu Leistungen kommt, die in der vertragsärztlichen Versorgung nicht abrechenbar sind. Inwieweit die nach § 120 Abs. 3 SGB V vorgesehene Möglichkeit, die Vergütung der ambulant erbrachten Leistungen der Hochschulambulanzen zu pauschalieren, tatsächlich die Möglichkeit einräumt, die nach § 135 SGB V vorgesehenen Grenzen des Leistungsanspruchs unberücksichtigt zu lassen, spielt hier keine Rolle, da jedenfalls für den Fall des Klägers eine pauschalierte Abrechnung nicht erfolgen konnte. Ansonsten hätte die Universitätsklinik den Kostenübernahmeantrag für den Kläger nicht gestellt. Insgesamt kann nach Ansicht des Senats auch in Hochschulambulanzen ein Anspruch auf Versorgung mit einer ambulanten BTA-Therapie zur Behandlung einer Adduktorenspastik im Bereich der Oberschenkel jedenfalls schon deshalb nicht bestehen, weil nach den obigen Ausführungen bisher keine hinreichend begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg nachweisbar ist. Für nicht hinreichend erforschte Therapien kann keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung bestehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Zulassung der Revision beruht auf § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG, weil die Rechtssache in Bezug auf die Möglichkeit einer ambulanten Krankenhausbehandlung grundsätzliche Bedeutung hat. Die Frage, ob ein Anspruch auf eine “Off-Label”-Behandlung möglicherweise in bestimmten Kliniken unter erleichterten Bedingungen bestehen kann, ist höchstrichterlich noch nicht geklärt.