Sozialgericht Hannover S 19 KR 961/08

Sozialgericht Hannover

Urteil vom 28.04.2010

  • Sozialgericht Hannover S 19 KR 961/08

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.492,39 Euro zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von 2 % über den Basiszinssatz seit dem 13. November 2008. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits. 3. Der Streitwert beträgt 2.492,39 Euro.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um eine Krankenhausvergütungsforderung, wobei vorliegend die Abgrenzung zwischen stationärer Behandlungsnotwendigkeit und Sterbebegleitung streitbefangen ist.

Zugrunde lag der Behandlungsfall der im Jahre 1919 geborenen Patientin E., die bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert war. Die Patientin wurde in der Zeit vom 20. bis 25. März 2006 im Hause der Klägerin stationär behandelt. Die Aufnahme erfolgte rettungsdienstbegleitet auf Einweisung des Hausarztes wegen einer weiteren Linksherzdekompensation sowie Atemnot. Die Patientin verstarb am 25. März 2006.

Mit Rechnung vom 11. Dezember 2007 brachte die Klägerin für den Behandlungsfall einen Gesamtbetrag von 2.492,39 Euro in Ansatz. Die Beklagte beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ursprünglich mit der Überprüfung der Kodierung. Sie rügte hierbei zunächst die Kodierung der Nebendiagnose J96.0. In einem Gutachten des MDK vom 11. September 2009 führte dieser aus, dass keine medizinische Indikation für eine stationäre Behandlung in einem Akutkrankenhaus vorgelegen hätte. Bei den erbrachten Leistungen habe es sich um eine Sterbebegleitung gehandelt. Dieses Ergebnis wurde durch das zweite MDK-Gutachten vom 05. Mai 2008 bestätigt.

Hiergegen erhob die Klägerin am 13. November 2008 Klage vor dem Sozialgericht Aurich, mit welcher sie ihr Vergütungsbegehren weiterverfolgt. Unter eingehender Darstellung des Erkrankungsbildes führt sie aus, dass eine erneute Dekompensation des Aortenvitiums mit ungewissem Ausgang vorgelegen habe. Das Versterben der Patientin einige Tage später sei nicht absehbar gewesen. Folgerichtig sei die Patientin stationär aufgenommen worden und behandelt worden. Die durchgeführten Behandlungen werden im Einzelnen dargestellt. Diese hätten das Ziel verfolgt, im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten die Dekompensation zurückzuführen und die damit verbundenen Krankheitsbeschwerden zu lindern. Sowohl aus der ex ante Sicht als auch aus der ex post Sicht habe eine eindeutige Indikation zur Krankenhausaufnahme und Krankenhausbehandlung bestanden, die auch durch die GAEP Kriterien gestützt wurde.

Die Klägerin beantragt wie folgt zu erkennen:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.492,39 Euro nebst 5 Prozentpunkte Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält eine Krankenhausbehandlung nicht für erforderlich. Die von der Klägerin durchgeführte Medikation und Sterbebegleitung hätte ebenso ambulant oder in einer Hospizeinrichtung erfolgen können. Der Gesundheitszustand der Patientin sei bereits soweit herabgesetzt gewesen, dass eine Behandlung nicht mehr möglich gewesen sei. Die Patientin sei zum Sterben ins Krankenhaus gekommen. Der Klägerin sei von vornherein bekannt gewesen, dass weder diagnostische noch therapeutische Maßnahmen durchgeführt werden brauchten. Es hätte ex ante keine Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung erkannt werden können. Die Klägerin hätte damit rechnen müssen, dass eine weitere Zuspitzung der Krankheitsbefunde unmittelbar den Tod der Patientin auslösen würde. Die medizinischen Maßnahmen zur Beschwerdelinderung hätten erkennbar nicht die besonderen Mittel eines Krankenhauses benötigt. Die Beklagte überreicht nach durchgeführter Beweisaufnahme ein weiteres MDK-Gutachten vom 11. Januar 2010, durch welches sie ihre Ansicht gestützt sieht.

Das Sozialgericht Aurich hat den Rechtsstreit durch Beschluss vom 15. Dezember 2008 an das Sozialgericht Hannover verwiesen. Die erkennende Kammer hat den medizinischen Sachverhalt näher aufgeklärt und die Patientenakte des Behandlungsfalles F. beigezogen. Hiernach hat das Gericht das Gutachten des Internisten G. vom 29. Juni 2009 eingeholt. Auf die Einwendungen der Beklagten ist die ergänzende gutachterliche Stel-lungnahme des G. vom 23. Februar 2010 eingeholt wurden. Die Einzelheiten ergeben sich aus Blatt 39 ff und Blatt 89 ff in der Prozessakte. Soweit es hierauf ankommt, wird in der Begründung im Einzelnen Bezug genommen.

Die Kammer hat die Beteiligten vor Entscheidung durch Gerichtsbescheid unter Setzung einer Ausschlußfrist nach § 106a Abs. 2 SGG ordnungsgemäß angehört und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid gegeben (§ 105 Abs. 1 SGG).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte, die Patientenakte der Klägerin und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe:

Gemäß § 105 SGG konnte das Gericht im vorliegenden Fall ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten vor Erlass ordnungsgemäß unter Angabe der entsprechenden Begründung gehört wurden. Fehlendes Einverständnis steht dem nicht entgegen.

Die Klage ist als (echte) Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 5 SGG als Parteienstreit im Gleichordnungsverhältnis zulässig (BSG SozR 4-2500 § 39 Nr. 1 Rdnr. 6 mwN).

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hatte einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für eine stationäre Krankenhausbehandlung anlässlich der Behandlung der Patientin F. in der Zeit vom 20. März 2006 bis 25. März 2006.

Rechtsgrundlage des geltend gemachten Vergütungsanspruchs der Klägerin ist § 109 Abs. 4 Satz 3 SGB V sowie dem Vertrag nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 SGB V zur “Überprü-fung der Notwendigkeit und Dauer der Krankenhausbehandlung”. Die Zahlungsverpflichung der gesetzlichen Krankenkassen entsteht unabhängig von einer Kostenzusage unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten (BSGE 86, 166, 168 = SozR 3-2500 § 112 Nr. 1). Die Krankenkasse ist bei einem zugelassenen Kran-kenhaus (§ 108 SGB V) als Korrelat zu dessen Behandlungspflicht auch ohne zusätzliche vertragliche Vereinbarung verpflichtet, die festgelegten Entgelte zu zahlen, sofern die Versorgung im Krankenhaus erforderlich ist (BSGE 89, 104 = SozR 3-2500 § 112 Nr. 2; st. Rspr.: zuletzt BSG, Urteil vom 24. Januar 2008 – B 3 KR 6/07 R Rdnr. 11, Urteil vom 10. April 2008 – B 3 KR 14/07, B 3 19/05 R, B 3 KR 21/05 R). Die Entscheidung darüber, ob dem Versicherten ein Anspruch auf stationäre Krankenhausbehandlung als Sachleistung zusteht und ob die stationäre Behandlung aus medizinischen Gründen notwendig ist, obliegt nicht dem Krankenhaus, sondern der Krankenkasse, gegen die sich der Anspruch richtet (BSGE 65, 94, 97 = SozR 2200 § 182 Nr. 115 S. 264; BSGE 82, 158, 161 = SozR 3-2500 § 39 Nr. 5 S. 26; Beschluss des Großen Senats – GS – des BSG vom 25. September 2007 – GS 1/06 Rdnr. 28 ff). Wird der Patient ohne vorherige Konsultation der Krankenkasse stationär aufgenommen, so entscheidet diese über den Behandlungsanspruch indirekt, indem sie, erforderlichenfalls nach Einschaltung des MDK, eine in der Regel befristete Kostenzusage (Kostenübernahmeerklärung) erteilt. In jedem Falle hat die Krankenkasse vor ihrer Entscheidung die Erforderlichkeit der stationären Behandlung eigenständig und ohne Bindung an die Beurteilung des zuständigen Krankenhausarztes zu prüfen (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 29.10.2008, L 1 KR 130/06).

Nach Maßgabe dieser Voraussetzungen lässt sich in dem streitbefangenen Zeitraum eine stationäre Behandlungsbedürftigkeit bejahen. Die stationäre Krankenhausbehand-lung war objektiv erforderlich; sie stellt weder eine Sterbebegleitung dar, noch hätte sie im ambulanten Bereich erbracht werden können.

Bei der Patientin F. bestanden eine globale Herzinsuffizienz, eine Linksherzinsuffizienz mit Beschwerden in Ruhe, eine akute respiratorische Insuffizienz, eine Aortenklappenstenose mit Insuffizienz, ein Diabetes mellitus, eine arterielle Hypertonie, ein Delia und eine Hypokaliämie. Nach der Aufnahme wurde eine Notfalldiagnostik durchgeführt und zunächst eine medikamentöse Therapie der dekompensierten Herzinsuffizienz eingeleitet. Zur Behandlung des Delirs wurde weiterhin eine medikamentöse Therapie durchgeführt. Hiernach war der Verlauf bestimmt durch eine symptomorientierte und überwiegend palliative, das heißt auf Linderung bedachte Therapie bei Auftreten eines Psychosyndroms mit Verwirrtheit. Im Rahmen der Behandlung sind die besonderen Mittel des Krankenhauses durch ärztliche Behandlung und aufwändige pflegerische Versorgung zum Einsatz gekommen. Die Krankenhausbehandlung ist medizinisch begründet gewesen und stand nicht im Widerspruch zur allgemeinen oder besonderen ärztlichen Erfahrung. Aufgrund der durchgeführten therapeutischen Maßnahmen ist die Behandlung auch nicht als Sterbebegleitung, sondern vielmehr als stationäre Krankenhausbehandlung zu qualifizieren. Eine Versorgung im ambulanten Bereich ist aufgrund der besonderen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen nicht möglich gewesen. Eine Hospizbehandlung ist ebenfalls nicht angezeigt gewesen, da die instabile Gesundheitssituation der Patientin eine durchgehende Arztpräsenz notwendig gemacht hat. Diese Bewertung ergibt sich zur Überzeugung des Gerichtes schlüssig und nachvollziehbar aus den gerichtlichen Gutachten des Internisten G. vom 29. Juni 2009 in Zusammenschau mit der Krankenakte der Patientin E … Die Feststellungen sind in sich schlüssig und insbesondere zur Würdigung der stationären Behandlungsbedürftigkeit plausibel. Das Gericht hat die Ausführungen des Gutachters überprüft und in eigener Würdigung nachvollzogen; hiernach ist dem medizinischen Votum uneingeschränkt zuzustimmen. Entgegen der Ansicht der Beklagten bestehen keine Anhaltspunkte für eine unrichtige, unsorgfältige oder unvollständige Beurteilung. Es ist nicht zutreffend, dass der Gutachter wesentliche medizinische Aspekte nicht erkannt habe und andere Aspekte, wie die Durchführung der Medikation in einem anderen Umfeld. Die Einwendungen der Beklagten sind durch die ergänzende gutachterliche Stellungnahme des G. vom 23. Februar 2010 vollständig und umfassend abgeklärt worden und konnten danach nicht verifiziert werden.

Das Gericht war auch nicht gehalten, der Beklagten nach der ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme eine Fristverlängerung zu gewähren. Denn das Gericht hat mit Verfügung vom 29. März 2009 eine Ausschlussfrist gem. § 106 a Abs. 2 SGG gesetzt, die explizit nicht verlängert werden konnte. Die Beklagte hat die fehlende Einhaltung der Frist nicht hinreichend entschuldigt im Sinne des Abs. 3 der Vorschrift. Auf den Urlaub der MDK-Ärztin kommt es nicht an, da der MDK nicht Verfahrensbeteiligter ist. Allein die Beklagte als Verfahrensbeteiligte hat sicherzustellen, dass sie gerichtliche Fristen rechtzeitig einhält. Wenn sie zur Beratung auf Dritte zurückgreift, so hat sie sich deren Organisationsstrukturen zurechnen zu lassen. Auf Zumutbarkeitskriterien kommt es dabei entgegen der Ansicht der Beklagten nicht an. Ferner kommt es nicht darauf an, dass die Beklagte bisher nicht bestimmte Literatur besorgt hat, denn diese Verzögerung liegt alleine in ihrem Verantwortungsbereich.

Unabhängig von der festgestellten medizinischen Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung stützt sich der Vergütungsanspruch der Klägerin ergänzend auf § 70 Abs. 2 SGB V. Die Leistungsverweigerung der Beklagten verstößt in eklatanter Weise gegen das Humanitätsgebot. Nach der Vorschrift des § 70 Abs. 2 SGB V haben die Krankenkassen und die Leistungserbringer durch geeignete Maßnahmen auf eine humane Krankenbehandlung ihrer Versicherten hinzuwirken.

Die Vorschrift richtet sich an Krankenkassen und Leistungserbringer und ist bei der Auslegung, ob und in welcher Weise Versicherte Anspruch auf eine bestimmte Art der Krankenbehandlung haben, als Auslegungsrichtlinie zu berücksichtigen (Engelmann in: ju-risPK-SGB V, § 70 SGB V, Rn. 38). Dabei kommt der Verpflichtung zur Herbeiführung einer humanen Krankenbehandlung gerade Bedeutung bei der Abwägung mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot zu. Sie wird demgemäß in gerichtlichen Auseinandersetzungen über einen Anspruch auf eine bestimmte Leistung in der Weise herangezogen, dass sie diesen stützen soll (Bayerisches LSG v. 25.04.2006 – L 5 KR 3/06; 51; LSG Niedersachsen-Bremen v. 17.03.2004 L 4 KR 217/01 – NdsRpfl 2004, 307-308.). Hiernach erschiene es nicht nur inhuman, sondern geradezu verwerflich, eine Patientin mit Herzbeschwerden und Luftnot unter Hinweis auf den ohnehin bevorstehenden Tod nicht in die Krankenhausbehandlung aufzunehmen.

Die Höhe der Forderung hat das Gericht dabei nicht näher zu prüfen, da die Beklagte im gerichtlichen Verfahren allein den Forderungsgrund, nicht aber die Forderungshöhe bestritten hat. Vor diesem Hintergrund kam es auf die (vorsorglich erbetenen) Feststellungen des Gutachters G. über die Zuordnung zur zutreffenden DRG nicht an. Das Gericht brauchte nicht zu entscheiden, ob die Kodierung nach der DRG F62B oder der DRG F69A zu erfolgen hatte.

Der Klage war hiernach bezüglich der Hauptforderung antragsgemäß zu entsprechen.

Die Entscheidung zur Zinshöhe von 2% üBZ richtet sich nach den Regelungen des Nds. Landesvertrag, da ein Sicherstellungsvertrag gegenüber gesetzlichen Zinsregelungen vorrangig ist (BSG v. 08.09.2009, B 1 KR 8/09 R).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 VwGO. Für die an sich gebotene Verhängung von Missbrauchsgebühren nach § 192 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG gegen die Beklagte ist trotz Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen kein Raum, da die Vorschriften der §§ 184 bis 195 SGG im Verfahren nach § 197a SGG keine Anwen-dung finden.

Die Entscheidung zum Streitwert richtet sich nach § 52 Abs. 1 GKG nach der Höhe der Klageforderung.