Bayerisches Landessozialgericht L 4 KR 104/99

Bayerisches Landessozialgericht

Urteil vom 09.11.2000 (nicht rechtskräftig)

  • Sozialgericht München S 3 KR 39/97
  • Bayerisches Landessozialgericht L 4 KR 104/99

 

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 7. Juli 1999 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 24. August 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Januar 1997 verurteilt, der Klägerin DM 24.162,36 zu erstatten.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Beklagte verpflichtet ist, die vollen Kosten einer Operation der Klägerin in einem Nichtvertrags-Krankenhaus zu übernehmen.

Die am …1939 geborene Klägerin ist über ihren Ehemann … (Mitglied) bei der Beklagten versichert.

Bei ihr wurde am 25.04.1995 kernspintomographisch ein intermiatal gelegenes Akkustikneurinom festgestellt. Die behandelnde Ärztin der Klägerin Dr.J … überwies sie deshalb an die Universitäts-Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkranke Erlangen-Nürnberg zur Operation. Nachdem dort als voraussichtlicher Aufnahmetermin der 05.07.1996 angegeben worden war, vereinbarte die Klägerin mit der Euro-Med-Clinik Fürth (Prof.H …) eine Operation am 13.06.1995.

Der Ehemann setzte sich am 24.05.1995 telefonisch mit der Beklagten in Verbindung und wies darauf hin, die Operation sei unaufschiebbar. Eine Wartezeit von 14 Monaten sei unzumutbar. Als Alternative stehe nur die Euro-Med-Clinik zur Verfügung.

Laut Aktennotiz erhielt er die Auskunft, es handele sich bei der Euro-Med-Clinik um keine Vertragsklinik, eine Kostenerstattung sei nicht möglich.

Daraufhin wiederholte er seinen Antrag schriftlich und teilte mit, es gebe zu Prof.W … in Erlangen nur die Alternative Prof.H … in Fürth. Prof.H … habe früher ebenfalls in Erlangen gearbeitet. Die Operation in der Euro-Med-Clinik sei vereinbart worden zum 13.05.1995, nachdem in der Universitätsklinik kein früherer Operationstermin als Juni 1996 zu bekommen gewesen war. Ein Rücktritt vom Operationstermin sei bis 07.06.1995 möglich.

Am 01.06.1995 wandte sich das Mitglied erneut an die Beklagte und wies auf die psychische Belastung der Klägerin durch die lange Wartezeit hin. In der “Bescheinigung zur Vorlage bei der Krankenkasse” vom 26.05.1995 bestätigte Dr.J …, sie habe der Patientin empfohlen, die Operation so bald als möglich durchführen zu lassen, weil neben der akut aufgetretenen Innenohrschwerhörigkeit zusätzlich Tinnitus links und Gleichgewichtsstörungen bestehen. Sie bat um Übernahme der Kosten für diese Operation.

Daraufhin schaltete die Beklagte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Bayern (MDK) ein. Der begutachtende Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr.H … kam am 13.06.1995 zu der Feststellung, eine operative Entfernung des zwar gutartigen, aber ständig wachsenden Tumors müsse außer Zweifel bald erfolgen. Eine Operation sei auch in der Universitäts-HNO-Klinik Würzburg möglich, ein Operationstermin sollte erfragt werden. Das Gutachten ging am 16.06.1995 bei der Beklagten ein, am 30.06.1995 fragte sie dann in Würzburg an; die Auskunft vom selben Tag lautete, dass der nächstmögliche Operationstermin der 06.12.1995 sei. Diese Wartezeit von fünf Monaten hielt der hierzu telefonisch befragte Gutachter Dr.H … für zumutbar, es handele sich um einen kleinen Tumor. Inzwischen war die stationäre Behandlung in der Euro-Med-Clinik in der Zeit vom 12. bis 23.06.1995 durchgeführt worden.

Am 03.07.1995 wandte sich der Bearbeiter bei der Geschäftsstelle München, Herr M …, nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub an das Referat Leistungen bei der Beklagten und bat um Entscheidung, ob in Anbetracht der Fallkonstellation und der bisherigen Fallabwicklung bis heute “keine schriftliche Antwort an das Mitglied” eine Kassenleistung im Umfang der Vertragssätze der fachlich geeigneten Vertragsklinik in Erlangen möglich bzw. notwendig sei.

Die Beklagte teilte daraufhin mit Bescheid vom 24.08.1995 mit, sie wolle gegen Vorlage der bezahlten Originalrechnungen die Kosten erstatten, die bei einer Behandlung in der Universitäts-HNO-Klink Würzburg entstanden wären. Sie errechnete für zwölf Tage einen Erstattungsbetrag von DM 5.959,32.

Gegen diesen Bescheid richtete sich der Widerspruch vom 20.09. 1995, der damit begründet wird, die Beklagte habe auf den Brief vom 27.05.1995 bis 25.08.1995 nichts von sich hören lassen. Durch dieses Versäumnis sei der Klägerin die Möglichkeit genommen worden, sich für eine Operation in Würzburg zu entscheiden. Da sie von keiner Seite einen Hinweis auf die Operationsmöglichkeit in Würzburg bekommen habe, habe sie in der damaligen Situation keine andere Wahl gehabt, als sich in Fürth operieren zu lassen.

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 13.01.1997 zurückgewiesen. Die vollen Kosten der Operation könnten nicht übernommen werden, weil die Euro-Med-Clinik kein Vertragskrankenhaus sei. Mit der Behandlung dort sei begonnen worden, bevor über den Leistungsantrag entschieden worden sei. Außerdem hätte die Operation auch mit einer Wartezeit von fünf Monaten in Würzburg stattfinden können.

Hiergegen richtete sich die zum Sozialgericht München erhobene Klage. Die Klägerin führt aus, die Beklagte habe ihre Beratungs-, Aufklärungs- und Betreuungspflichten ihr gegenüber verletzt. Sie habe nicht rechtzeitig über die Möglichkeit einer Operation in der Universitätsklinik Würzburg informiert. Prof.H … von der Euro-Med-Clinik bestätigte, dass der späteste Termin für den Rücktritt von der geplanten Operation der 12.06. 1995 gewesen wäre.

Das Sozialgericht holte ein Gutachten der Hals-Nasen-Ohrenärzte Dres.K … zu den Fragen ein, welche Erkrankungen bei der Klägerin vorlagen, ob die Behandlung in der Euro-Med-Clinik ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich war, welche Behandlungsmöglichkeiten in zugelassenen Krankenhäusern ausreichend und zweckmäßig gewesen wären und ob der stationäre Aufenthalt vom 12.06. bis 23.06.1995 unaufschiebbar war. Die Gutachter kamen zu dem Ergebnis, dass Prof.H … die Voraussetzungen erfüllt, die an einen Operateur eines Tumorleidens wie dem der Klägerin gestellt werden müssen. Die Operation sei ausreichend und zweckmäßig gewesen. Der Eingriff könne nicht nur in Erlangen oder in Würzburg durchgeführt werden. Es könne aber von Patienten nicht erwartet werden, dass sie bei einem solch relativ seltenen Krankheitsbild wissen, an welchen zugelassenen Krankenhäusern eine ausreichende medizinische Versorgung möglich wäre. Eine Wartezeit von 14 Monaten erscheine nicht zumutbar.

Der nach § 109 SGG gutachtlich gehörte Hals-Nasen-Ohren-Arzt Prof.Dr.T … bestätigte im Gutachten vom 08.12.1998, dass eine 14-monatige Wartezeit auf die Operation weder aus medizinischen noch psychologischen Gründen für die Klägerin zumutbar gewesen wäre.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 07.07.1999 mit der Begründung abgewiesen, ein Kostenerstattungsanspruch bestehe nicht, der Klägerin wäre eine fünfmonatige Wartezeit zumut- Aufklärungspflichten nicht verletzt, eine Systemstörung oder Versorgungslücke sei nicht ersichtlich. Außerdem hätte die Klägerin die Entscheidung der Krankenkasse abwarten müssen, bevor sie sich in Behandlung begeben hatte.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung. Dazu wird ausgeführt, das Sozialgericht habe die Gesamtaussage des Prof.T … zur Unaufschiebbarkeit der Operation völlig unzureichend gewürdigt und verkenne, dass im Zeitraum der Notwendigkeit einer Operation tatsächlich eine Versorgungslücke bestanden habe. Schließlich habe die Klägerin auch einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Die Beklagte habe versäumt, sich unverzüglich nach einem möglichen Operationstermin in Würzburg zu erkundigen und die Klägerin mit dem Bescheid vom 24.08.1995 viel zu spät über eine andere Operationsmöglichkeit informiert.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts München vom 07.07.1999 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 24.08.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.01.1997 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr auch noch die restlichen Behandlungskosten in der Euro-Med-Clinik in Höhe von DM 24.162,36 zu erstatten.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält weiterhin die Krankenhausbehandlung in der Euro-Med-Clinik nicht für eine “berechtigte Fremdleistung”. Sie sei nicht untätig gewesen, da sie sich für die leistungsrechtliche Beurteilung des Antrags der Klägerin des Fachverstandes des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung habe bedienen müssen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogene Akte der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung, deren Wert des Beschwerdegegenstandes DM 1.000 übersteigt (§ 144 SGG), ist zulässig und begründet.

Die Klägerin hat Anspruch auf Erstattung sämtlicher Kosten, die ihr durch die Behandlung in der Euro-Med-Clinik vom 12.06.1995 bis 23.06.1995 entstanden sind.

Anspruchsgrundlage ist § 13 Abs.3 SGB V. Danach hat die Krankenkasse Kosten zu erstatten, die dadurch entstehen, dass sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte (Voraussetzung 1) oder dass sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat (Voraussetzung 2). In beiden Fällen muss es sich um eine notwendige Leistung handeln, wie der letzte Halbsatz klarstellt und wie sich bereits daraus ergibt, dass die Kostenerstattung nach § 13 Abs.1 SGB V an die Stelle der Sachleistung tritt, die ihrerseits nur dann geschuldet wird, wenn sie notwendig ist (BSG, Urteil vom 24.09.1996; SozR 3-2500 § 13 Nr.11). Die Notwendigkeit der Operation der Klägerin ist unbestritten.

Ebenso ist es zutreffend und zwischen den Beteiligten unbestritten, dass ein Kostenerstattungsanspruch nicht allein deshalb ausgeschlossen ist, weil sich die Klägerin in einem nicht zugelassenem Krankenhaus hat operieren lassen. Die Beklagte hat es in den streitgegenständlichen Bescheiden nicht abgelehnt, sich dem Grunde nach an den Kosten zu beteiligen, die Entscheidung in der Höhe ist jedoch zu korrigieren.

Das BSG (aaO) hat hierzu ausgeführt, dass Kosten für nicht zugelassene Leistungserbringer zu erstatten sind, wenn deren Inanspruchnahme durch das Unvermögen oder die Ablehnung der Krankenkasse wesentlich mitverursacht wird. Der Senat geht im Fall der Klägerin von einem Unvermögen der Kasse aus. Die Klägerin durfte ausnahmsweise den nicht zugelassenen Leistungerbringer in Anspruch nehmen, weil eine Systemstörung sie dazu berechtigte (BSG, Urteil vom 23.10.1996; SozR 3-2500 § 13 Nr.12). Es ist der Beklagten nicht (oder zumindest nicht rechtzeitig) gelungen, zugelassene Krankenhäuser zu benennen, die in angemessener Zeit die notwendige Operation der Klägerin ausführen konnten. Eine Wartezeit von fünf Monaten erscheint unter Berücksichtigung der psychischen und physischen Situation der Klägerin unzumutbar. Die einzige aktenkundige ärztliche Äußerung zur Zumutbarkeit von fünf Monaten Wartezeit, nämlich die des Dr.H … (MDK) enthält keinerlei Begründung und ist deshalb nicht nachvollziehbar. Weitere Ermittlungen dahingehend, welche Wartezeit der Klägerin zumutbar gewesen wäre, sind jedoch nicht erforderlich, weil die Klägerin auch unter dem Aspekt des Herstellungsgedankens einen Kostenerstattungsanspruch hat. Ob ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch von § 13 Abs.3 SGB V mitumfasst wird (BSG vom 24.09.1996 – SozR 3-2500 § 13 Nr.11) oder neben § 13 Abs.3 SGB V gegeben sein kann (Höfler KassKomm Rdz.6 zu § 5 SGB V) ist im Ergebnis nicht entscheidungserheblich. Die Beklagte hat, wie in der mündlichen Verhandlung vom Senat bereits deutlich ausgeführt, ihre Verpflichtung zu unverzüglicher Beratung und Unterstützung der Klägerin verletzt. Hätte sie sich nach der mündlichen Ablehnung auf den schriftlichen Antrag hin mit der Klägerin in Verbindung gesetzt und ihr mitgeteilt, sie werde versuchen, andere geeignete Operationsmöglichkeiten zu finden, hätte die Klägerin die Operation bei Prof.H … stornieren können. Die bis zum 24. August 1995 dauernde Untätigkeit der Beklagten der Klägerin gegenüber war ursächlich für die Entstehung der Kosten der Klägerin. Diese nicht zu rechtfertigende Säumnis der Beklagten hat die Klägerin Behandlungstermin, der bis zum Aufnahmetag hätte storniert werden können, auch einzuhalten, weil eine Behandlungsalternative nicht in Sicht war.

Die Kosten sind gemäß § 13 Abs.3 SGB V in vollem Umfang zu erstatten (BSG vom 24.09.1996 aaO S.53).

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG und entspricht dem Obsiegen der Klägerin.

Gründe, die Revision gemäß § 160 SGG zuzulassen, sind nicht gegeben.