Bundessozialgericht B 1 KR 20/23 R

Kernpunkte:

  • Es geht um die persönliche Verfügbarkeit der ärztlichen Behandlungsleitung für die intensivmedizinische Komplexbehandlung 8-980 und  8-98f.
  • Die Behandlungsleitung trägt die fachlich-inhaltliche Verantwortung für die Versorgung des Patienten. Sie plant, koordiniert und überwacht die Leistungen und ärztlichen Tätigkeiten am Patienten.“(Hinweise für die Benutzung im Systematischen Verzeichnis des OPS) – Eine derartige Verantwortung kann aber nur bei persönlicher Anwesenheit eines über die geforderten Qualifikationen verfügenden, seine Behandlungsleitung für die Dauer der Behandlung tatsächlich ausübenden Facharztes wahrgenommen werden. RdNr 17
  • Eine über die geforderte Qualifikation verfügende und mit der Behandlungsleitung betraute Person muss an jedem Tag der Woche – auch am Wochenende – persönlich auf der Intensivstation zumindest kurzzeitig anwesend sein, um sich einen Überblick über den Zustand der dort behandelten Patienten zu verschaffen und eventuelle Anpassungen des Behandlungsplans anzuordnen. Während der übrigen Zeiten muss zumindest eine Rufbereitschaft bestehen. RdNr 23
  • Sinngemäß: Eine Vertretung der Behandlungsleitung muss “strukturell erkennbar” sein. Das heißt wohl, dass die Stellvertretung aus einem Dienstplan ersichtlich sein muss. RdNr 32

 

Bundessozialgericht

Verkündet am
25.06.2024

Im Namen des Volkes

Urteil

in dem Rechtsstreit

 

BSG Az.:  B 1 KR 20/23 R
Sächsisches LSG 14.06.2023 – L 1 KR 539/20
SG Dresden 04.11.2020 – S 18 KR 531/18

………………………………………

Kläger und Revisionskläger,

Prozessbevollmächtigte:

………………………………….

gegen

Kaufmännische Krankenkasse – KKH,
Karl-Wiechert-Allee 61, 30625 Hannover,

Beklagte und Revisionsbeklagte.

 

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 25. Juni 2024 durch den Vorsitzenden Richter Dr. E s t e l m a n n , den Richter Dr. B o c k h o l d t und die Richterin Dr. M a t t h ä u s sowie die ehrenamtlichen Richterinnen K a n d r a s c h o w und R u d o l p h für Recht erkannt:

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 14. Juni 2023 wird zurückgewiesen

Der Kläger trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 13 028,61 Euro festgesetzt.

 

Gründe:

I

 

1 Die Beteiligten streiten über die Vergütung einer stationären Krankenhausbehandlung und in diesem Zusammenhang über die Voraussetzungen für die Kodierung einer intensivmedizinischen Komplexbehandlung (Operationen- und Prozeduren-Schlüssel <OPS> 8-980, Version 2015).
2 In dem zugelassenen Krankenhaus des Klägers wurde in der Zeit vom 28.12.2015 bis 4.2.2016 eine an einer Gelbsucht sowie einer bösartigen Neubildung des Nierenbeckens leidende Versicherte der beklagten Krankenkasse (KK) vollstationär behandelt. Der Kläger rechnete den Behandlungsfall gegenüber der Beklagten nach Maßgabe von Diagnosis Related Group (DRG) L36Z ab und verschlüsselte hierfür OPS 8-980.20 (Intensivmedizinische Komplexbehandlung <Basisprozedur>: 553 bis 1104 Aufwandspunkte). Die Beklagte zahlte den sich daraus ergebenden Rechnungsbetrag in Höhe von 25 231,03 Euro und beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung mit einer Prüfung der Abrechnung. Nachfolgend verrechnete sieh13 028,61 Euro mit anderen – für sich genommen unstreitigen – Forderungen des Klägers. Sie machte geltend, die für die Kodierung des OPS 8-980 erforderliche lückenlose Behandlungsleitung durch einen Facharzt mit Zusatzbezeichnung “Intensivmedizin” an Wochenenden, Feiertagen und in der Urlaubszeit sei für den streitigen Behandlungszeitraum nicht belegt. Die Vergütung berechne sich deshalb nach der geringer bewerteten DRG L09C.
3 Die auf Zahlung des verrechneten Betrages nebst Zinsen gerichtete Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Das LSG hat zur Begründung ausgeführt: Die von dem OPS 8-980 verlangte Behandlungsleitung durch einen Facharzt mit der Zusatzweiterbildung “Intensivmedizin” erfordere, dass ein solcher auch an Wochenenden und Feiertagen täglich persönlich im Krankenhaus anwesend sei. Die beiden auf der Intensivstation des Klägers dienstplanmäßig tätigen Fachärzte mit dieser Zusatzweiterbildung seien ausweislich der von dem Kläger vorgelegten Dienstpläne in der Zeit vom 8.1.2016 15:30 Uhr bis 11.1.2016 7:00 Uhr nicht im Dienst gewesen und hätten damit eine Behandlungsleitung nicht wahrnehmen können. Auch eine Rufbereitschaft oder sonstige Maßnahmen zur Ermöglichung einer persönlichen Anwesenheit der Behandlungsleitung hätten nicht bestanden.
4 Mit seiner Revision rügt der Kläger sinngemäß eine Verletzung von OPS 8-980. Dieser Kode fordere nicht die ständige Anwesenheit eines Intensivmediziners. Er sehe hinsichtlich der Behandlungsleitung – anders als etwa OPS 8-98f – keine zeitliche Komponente vor und auch keine Stellvertreterregelung. Die vom LSG zur Begründung seiner Entscheidung herangezogenen Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hätten keinen normativen Charakter und die ihnen zugrunde liegenden Studienergebnisse seien umstritten. Der “Eigenart der Intensivmedizin” werde durch die weiteren Merkmale des OPS 8-980 (ua 24-stündige ärztliche Präsenz und Überwachung, akut behandlungsbereites Team von Pflegepersonal und Ärzten) ausreichend Rechnung getragen.
5 Der Kläger beantragt:
die Urteile des Sächsischen Landessozialgerichts vom 14. Juni 2023 und des Sozialgerichts Dresden vom 4. November 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an ihn 13 028,61 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11. November 2016 zu zahlen.
6 Die Beklagte beantragt:
die Revision zurückzuweisen.
7 Sie hält die vorinstanzlichen Urteile für zutreffend.

 

II

 

<

 

8 Die Revision ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zu Recht hat das LSG die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende SG-Urteil zurückgewiesen.
9 Die zulässig erhobene (echte) Leistungsklage (stRspr; vgl BSG vom 16.12.2008 – B 1 KN 1/07 KR R – BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 9; BSG vom 16.8.2021 – B 1 KR 18/20 R – BSGE 133, 24 = SozR 4-2500 § 2 Nr 17, RdNr 7) ist unbegründet. Der mit der Klage geltend gemachte – unstreitige – Vergütungsanspruch (vgl dazu BSG vom 16.5.2024 – B 1 KR 29/22 R – RdNr 10) ist durch Aufrechnung mit dem aus der Behandlung der Versicherten resultierenden Erstattungsanspruch erloschen (vgl zur Zugrundelegung von Vergütungsansprüchen bei unstrittiger Berechnungsweise BSG vom 26.5.2020 – B 1 KR 26/18 R – juris RdNr 11 mwN, stRspr; vgl zur Aufrechnung BSG vom 25.10.2016 – B 1 KR 9/16 R – SozR 4-5562 § 11 Nr 2 und BSG vom 25.10.2016 – B 1 KR 7/16 R – SozR 4-7610 § 366 Nr 1). Der beklagten KK stand ein Erstattungsanspruch in der geltend gemachten Höhe zu.
10 Der Kläger hatte in dem streitigen Abrechnungsfall nur Anspruch auf die niedrigere Vergütung nach der Fallpauschale (Diagnosis Related Group) DRG L09C, nicht auf die abgerechnete und von der Beklagten gezahlte höhere Vergütung nach DRG L36Z. Der Kläger hat den die DRG L36Z ansteuernden OPS 8-980.20 zu Unrecht kodiert.
11 1. Rechtsgrundlage des von dem Kläger wegen der stationären Behandlung der Versicherten geltend gemachten Vergütungsanspruchs ist § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V iVm § 17b KHG und § 7 KHEntgG, der hier durch § 9 Abs 1 KHEntgG iVm der Fallpauschalenvereinbarung (FPV) 2015 konkretisiert wird (vgl BSG vom 19.6.2018 – B 1 KR 39/17 R – SozR 4-5562 § 9 Nr 10 RdNr 10 mwN). Die Zahlungsverpflichtung einer KK entsteht unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch die Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung – abgesehen von einem Notfall – in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und iS von § 39 Abs 1 Satz 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist (stRspr; vgl BSG vom 19.3.2020 – B 1 KR 20/19 R – BSGE 130, 73 = SozR 4-2500 § 12 Nr 18, RdNr 11 mwN). Diese Grundvoraussetzungen waren nach den unangegriffenen, den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) vorliegend erfüllt.
12 2. Welche DRG-Position abzurechnen ist, ergibt sich rechtsverbindlich aus der Eingabe und Verarbeitung von Daten in einem automatischen Datenverarbeitungssystem, das auf einem zertifizierten Programm (Grouper) basiert (vgl § 1 Abs 6 Satz 1 FPV 2015; vgl für die stRspr zum rechtlichen Rahmen der Klassifikationssysteme und des Groupierungsvorgangs: BSG vom 19.6.2018 – B 1 KR 39/17 R – SozR 4-5562 § 9 Nr 10 RdNr 13 und 17 mwN; zur Anwendbarkeit des im Zeitpunkt der Aufnahme geltenden Fallpauschalen-Katalogs und der dazu gehörenden Abrechnungsregeln vgl § 15 Abs 1 Satz 1 KHEntgG und § 1 Abs 1 Satz 1 FPV 2015; vgl dazu und zu den sog “Überliegerfällen” auch Vollmöller in BeckOK KHR, § 15 KHEntgG RdNr 4, Stand 1.3.2024; Quaas/Dietz in PdK Bu H-10c, KHEntgG, § 15 Ziff 2, Stand Februar 2022). Dieser Grouper greift auf Daten zurück, die entweder als integrale Bestandteile des Programms mit vereinbart sind oder an anderer Stelle vereinbarte Regelungen wiedergeben. Zu Letzteren gehören die Fallpauschalen selbst, die von den Vertragspartnern auf Bundesebene getroffene Vereinbarung zu den DKR (hier Version 2015) für das G-DRG-System gemäß § 17b KHG, aber auch die vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) – jetzt Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) – im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit jährlich herausgegebenen Klassifikationen des OPS und der ICD-10-GM, der deutschen Fassung der internationalen Klassifikation der Krankheiten (vgl BSG vom 24.1.2023 – B 1 KR 6/22 R – SozR 4-5562 § 9 Nr 22 RdNr 11).
13 3. Die Kodierung einer intensivmedizinischen Komplexbehandlung gemäß OPS 8-980 verlangt als Mindestmerkmal ua eine “Behandlungsleitung durch einen Facharzt mit der Zusatzweiterbildung ‘Intensivmedizin'”. Das erfordert, dass ein solcher Facharzt zumindest einmal täglich persönlich auf der Intensivstation anwesend ist und im Übrigen eine durchgehende Rufbereitschaft besteht. Dies folgt aus einer eng am Wortlaut orientierten und durch systematische Erwägungen unterstützten Auslegung des OPS 8-980.
14 a) Abrechnungsbestimmungen sind wegen ihrer Funktion im Gefüge der Ermittlung des Vergütungstatbestandes innerhalb eines vorgegebenen Vergütungssystems eng am Wortlaut orientiert und allenfalls unterstützt durch systematische Erwägungen auszulegen; Bewertungen und Bewertungsrelationen bleiben außer Betracht (stRspr; vgl BSG vom 8.11.2011 – B 1 KR 8/11 R – BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 27; BSG vom 16.7.2020 – B 1 KR 16/19 R – SozR 4-5562 § 9 Nr 16 RdNr 17, jeweils mwN). Sie dürfen nicht analog angewandt werden (vgl BSG vom 20.3.2024 – B 1 KR 41/22 R – juris RdNr 12 mwN). Eine Vergütungsregelung, die für die routinemäßige Abwicklung von zahlreichen Behandlungsfällen vorgesehen ist, kann ihren Zweck nur erfüllen, wenn sie allgemein streng nach ihrem Wortlaut sowie den dazu vereinbarten Anwendungsregeln gehandhabt wird und keinen Spielraum für weitere Bewertungen sowie Abwägungen belässt (stRspr; vgl die vorgenannten BSG-Urteile, aaO, mwN). Da das DRG-basierte Vergütungssystem vom Gesetzgeber als jährlich weiterzuentwickelndes (§ 17b Abs 2 Satz 1 KHG) und damit als “lernendes” System angelegt ist, sind bei zutage tretenden Unrichtigkeiten oder Fehlsteuerungen in erster Linie die Vertragsparteien berufen, diese mit Wirkung für die Zukunft zu beseitigen (vgl BSG vom 8.11.2011 – B 1 KR 8/11 R – BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 27 mwN; siehe zum Ganzen auch BSG vom 13.11.2012 – B 1 KR 14/12 R – SozR 4-2500 § 301 Nr 1 RdNr 12 ff mwN).
15 b) Der OPS kann Begriffe entweder ausdrücklich definieren oder deren spezifische Bedeutung kann sich ergänzend aus der Systematik der Regelung ergeben (vgl BSG vom 16.8.2021 – B 1 KR 11/21 R – SozR 4-5562 § 9 Nr 21 RdNr 7 mwN). Ferner kann der Wortlaut ausdrücklich oder implizit ein an anderer Stelle normativ determiniertes Begriffsverständnis in Bezug nehmen. Fehlt es an solchen normativen definitorischen Vorgaben, gilt der Grundsatz, dass medizinische Begriffe im Sinne eines faktisch bestehenden, einheitlichen wissenschaftlich-medizinischen Sprachgebrauchs zu verstehen sind. Ergeben sich weder aus dem determinierten Begriffsverständnis noch anhand eines faktisch bestehenden, einheitlichen wissenschaftlich-medizinischen Sprachgebrauchs eindeutige Erkenntnisse, ist in einem dritten Schritt der allgemeine Begriffskern maßgeblich (vgl zum Stufenverhältnis BSG vom 20.1.2021 – B 1 KR 31/20 R – SozR 4-2500 § 109 Nr 84 RdNr 25, 24; ferner BSG vom 20.3.2024 – B 1 KR 41/22 R – juris RdNr 18).
16 c) Für den im OPS 2015 an mehreren Stellen verwendeten Begriff “Behandlungsleitung” (siehe OPS 1-775, 8-550, 8-553, 8-559, 8-918, 8-91c, 8-971, 8-974, 8-977, 8-97d, 8-980, 8-981, 8-983, 8-984, 8-986, 8-988, 8-98a, 8-98b, 8-98d, 8-98e, 8-98f, 9-31) existiert weder in dem OPS selbst noch an anderer Stelle ein normativ-determiniertes Begriffsverständnis (vgl demgegenüber die “Hinweise für die Benutzung” im Systematischen Verzeichnis des OPS ab der Version 2021) und auch für einen einheitlichen wissenschaftlich-medizinischen Sprachgebrauch ist nichts ersichtlich; ein solcher wird auch nicht von den Beteiligten behauptet.
17 d) Bei der danach gebotenen Auslegung nach dem allgemeinsprachlichen Begriffskern unter ergänzender Berücksichtigung systematischer Erwägungen folgt aus dem Wort “Behandlungsleitung” – und nicht bloß “Behandlung unter Leitung” (vgl zB OPS 1-904, 8-561.2, 8-563, 8-91b, 8-982, 9-401.5) oder “Team unter Leitung” (vgl zB OPS 1-903, 1-945, 8-552, 8-975.2, 8-985, 9-403, 9-60 ff, 9-693) –, dass es dabei um eine gesteigerte Verantwortung für die unmittelbare Behandlung der Patienten und nicht nur um die Verantwortung für die Organisation und das Funktionieren der Behandlungseinheit geht (vgl BSG vom 10.3.2015 – B 1 KR 4/15 R – juris RdNr 14 zur geriatrischen frührehabilitativen Komplexbehandlung; vgl in diesem Sinne nunmehr auch die “Hinweise für die Benutzung” im Systematischen Verzeichnis des OPS ab der Version 2021: “Die Behandlungsleitung trägt die fachlich-inhaltliche Verantwortung für die Versorgung des Patienten. Sie plant, koordiniert und überwacht die Leistungen und ärztlichen Tätigkeiten am Patienten.”).  Eine derartige Verantwortung kann aber nur bei persönlicher Anwesenheit eines über die geforderten Qualifikationen verfügenden, seine Behandlungsleitung für die Dauer der Behandlung tatsächlich ausübenden Facharztes wahrgenommen werden (vgl BSG aaO; vgl auch BSG vom 18.7.2013 – B 3 KR 7/12 R – SozR 4-2500 § 109 Nr 30 RdNr 22 zum “Verantwortlichen” bei der multimodalen Schmerztherapie; aA SG München vom 23.7.2020 – S 15 KR 2143/18 – juris RdNr 44).
18 e) Der konkrete zeitliche Umfang und die Modalitäten der erforderlichen persönlichen Anwesenheit (auf der Station, im Krankenhaus bzw am Standort des Krankenhauses, in Rufbereitschaft) können dabei nicht für sämtliche Prozeduren einheitlich festgelegt werden, sondern nur unter Berücksichtigung der besonderen Anforderungen der jeweiligen Behandlung. Davon geht erkennbar auch schon der OPS 2015 selbst aus, indem er die Anforderungen an die fachärztliche Behandlungsleitung bei der spezialisierten stationären palliativmedizinischen Komplexbehandlung und der aufwendigen intensivmedizinischen Komplexbehandlung in den Kodes 8-98e und 8-98f jeweils in unterschiedlicher Weise konkretisiert (vgl nunmehr auch die “Hinweise für die Benutzung” im Systematischen Verzeichnis des OPS ab der Version 2021: “Für die Behandlungsleitung kann kodespezifisch der Umfang für die Anwesenheit und die Teilnahme an den Teambesprechungen festgelegt werden.”).
19 Sofern es – wie hier in dem OPS 8-980 – an einer solchen Konkretisierung fehlt, ist unter Berücksichtigung der Besonderheiten der in dem jeweiligen Kode beschriebenen Behandlung zu bestimmen, welche Anforderungen an die Anwesenheit und Erreichbarkeit der Behandlungsleitung zu stellen sind, um die fachlich-inhaltliche Verantwortung für die Versorgung der Patienten ausüben und die Leistungen und ärztlichen Tätigkeiten an den Patienten planen, koordinieren und überwachen zu können.
20 So hat der vormals hierfür zuständige 3. Senat des BSG für die multimodale Schmerztherapie (OPS 8-918) unter Berücksichtigung der in diesem OPS geforderten “täglichen Visite oder Teambesprechung und einer interdisziplinären wöchentlichen Teambesprechung” gefolgert, dass der Behandlungsleiter regelmäßig montags bis freitags mindestens halbtäglich im Hause sein muss (vgl BSG vom 18.7.2013 – B 3 KR 7/12 R – SozR 4-2500 § 109 Nr 30 RdNr 22). Für die geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung hat der erkennende Senat bei einer fünftägigen Abwesenheit der allein hierfür qualifizierten Ärztin eine Behandlungsleitung verneint (vgl BSG vom 10.3.2015 – B 1 KR 4/15 R – juris RdNr 14; vgl ferner für die neurologische Komplexbehandlung nach OPS 8-891 LSG Baden-Württemberg vom 24.3.2015 – L 11 KR 5212/13 – juris RdNr 53: Behandlungsleitung im konkreten Fall bejaht bei täglich zwei Visiten und der Möglichkeit, auch davon unabhängig die Patienten der fraglichen Station aufzusuchen, sowie bei ständiger 24stündiger Rufbereitschaft).
21 Für die vorliegend in Rede stehende intensivmedizinische Komplexbehandlung iS des OPS 8-980 sind dementsprechend für die Bestimmung der spezifischen Anforderungen an die Behandlungsleitung die Besonderheiten der intensivmedizinischen Behandlung zu berücksichtigen.
22 aa) Intensivmedizin ist Behandlung, Überwachung und Pflege von Patienten, bei denen die für das Leben notwendigen sog vitalen oder elementaren Funktionen von Atmung, Kreislauf, Homö- ostase und Stoffwechsel lebensgefährlich bedroht oder gestört sind, mit dem Ziel, diese Funktionen zu erhalten, wiederherzustellen oder zu ersetzen, um Zeit für die Behandlung des Grundleidens zu gewinnen (vgl BSG vom 28.2.2007 – B 3 KR 17/06 R – SozR 4-2500 § 39 Nr 8 RdNr 19 mwN). Die Zahl der betreuten Patienten auf der Intensivstation ist deutlich geringer als auf normalen Krankenstationen, weil das Pflegepersonal die Körperfunktionen ihrer Patienten wesentlich umfangreicher beobachten und überwachen muss. Die apparative Versorgung ist vielfältiger und umfasst neben den Geräten zur kontinuierlichen Überwachung der Vitalparameter meist zusätzliche Spezialapparaturen – etwa Beatmungsgeräte, elektronisch gesteuerte Medikamentenpumpen, Beobachtungsmonitore oder Dialysegeräte, die alle – abhängig vom jeweiligen Krankheitsbild – in unmittelbarer Nähe zum Patientenbett vorhanden sein müssen. Auch die ärztliche Tätigkeit ist intensiver als auf anderen Stationen; der Arzt muss bei auftretenden Krisen unmittelbar eingreifen, entsprechende Notfallkompetenz besitzen und die Intensivapparatur zielgerecht einsetzen können. Der Aufenthalt auf einer Intensivstation stellt deshalb die nachhaltigste Form der Einbindung in einen Krankenhausbetrieb und damit den Prototyp einer stationären Behandlung dar (vgl BSG aaO).
23 bb) Diese Besonderheiten der intensivmedizinischen Behandlung begründen auch besondere Anforderungen an die Behandlungsleitung. Zutreffend haben die Vorinstanzen insofern darauf hingewiesen, dass auf einer Intensivstation lebensbedrohlich erkrankte und akut behandlungsbedürftige Patienten regelmäßig auch am Wochenende aufzunehmen sind und dass sich bei bereits aufgenommenen Patienten relevante Veränderungen unabhängig von Wochentag und Uhrzeit ergeben können. Behandlungsleitende Entscheidungen können deshalb auch unvorhergesehen zu jeder Zeit kurzfristig erforderlich werden. Die Übernahme der fachlich-inhaltlichen Verantwortung für die Versorgung der Patienten, wie sie von der Behandlungsleitung gefordert wird (siehe oben RdNr 17), erfordert daher gegenüber anderen – besser planbaren – Behandlungen ein deutlich höheres Maß an persönlicher Anwesenheit und Erreichbarkeit. Eine nur wochentägliche Anwesenheit, wie sie etwa bei der multimodalen Schmerztherapie als ausreichend angesehen wird (siehe oben RdNr 20), genügt insofern nicht. Eine über die geforderte Qualifikation verfügende und mit der Behandlungsleitung betraute Person muss vielmehr an jedem Tag der Woche – auch am Wochenende – persönlich auf der Intensivstation zumindest kurzzeitig anwesend sein, um sich einen Überblick über den Zustand der dort behandelten Patienten zu verschaffen und eventuelle Anpassungen des Behandlungsplans anzuordnen. Während der übrigen Zeiten muss zumindest eine Rufbereitschaft bestehen.
24 g) Dieses Auslegungsergebnis wird durch weitere systematische Erwägungen gestützt.
25 aa) Für die spezialisierte stationäre palliativmedizinische Komplexbehandlung verlangt OPS 8-98e neben der 24-stündigen Behandlung auf einer eigenständigen Palliativeinheit durch ein multidisziplinäres und multiprofessionelles, auf die besonders aufwendige und komplexe Palliativbehandlung spezialisiertes Team eine fachliche Behandlungsleitung durch einen Facharzt mit Zusatzweiterbildung Palliativmedizin und besonderer Erfahrung. Dies wird weiter wie folgt konkretisiert: “Die 24-stündige fachliche Behandlungsleitung kann durch Rufbereitschaft gewährleistet werden”. Der konkretisierende Zusatz setzt als selbstverständlich voraus, dass die fachliche Behandlungsleitung bei der spezialisierten stationären palliativmedizinischen Komplexbehandlung grundsätzlich lückenlos (24-stündig) gewährleistet sein muss. Dass für die intensivmedizinische Komplexbehandlung geringere Anforderungen gelten sollten, ist nicht ersichtlich.
26 bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den speziellen Anforderungen des OPS 8-98f für die aufwendige intensivmedizinische Komplexbehandlung. Dieser Kode fordert gegenüber dem OPS 8-980 zusätzlich, dass der die Behandlungsleitung innehabende Facharzt mit der Zusatzweiterbildung “Intensivmedizin” den überwiegenden Teil seiner ärztlichen Tätigkeit auf der Intensivstation ausübt. Im Umkehrschluss lässt sich daraus zwar ableiten, dass dies bei der (normalen) intensivmedizinischen Komplexbehandlung nach OPS 8-980 nicht erforderlich ist, der mit der Behandlungsleitung betraute Facharzt mit der Zusatzweiterbildung “Intensivmedizin” also auch überwiegend auf anderen Stationen des Krankenhauses tätig sein kann. Dass er ganze Tage gar nicht im Krankenhaus anwesend sein muss, lässt sich dem aber nicht entnehmen (vgl auch die seit 2021 geltende Version des OPS 8-98f, wonach ein Facharzt mit der Zusatzweiterbildung “Intensivmedizin” werktags zwischen 8 und 18 Uhr bzw 6 und 22 Uhr mindestens 7 Stunden auf der Intensivstation anwesend und außerhalb dieser Anwesenheitszeit innerhalb von 30 Minuten am Patienten verfügbar sein muss).
27 cc) Soweit der Kläger meint, der Eigenart der Intensivmedizin werde bereits durch das (weitere) Mindestmerkmal einer kontinuierlichen, 24-stündigen Überwachung und akuten Behandlungsbereitschaft durch ein Team von Pflegepersonal und Ärzten, die in der Intensivmedizin erfahren sind und die aktuellen Probleme ihrer Patienten kennen, ausreichend Rechnung getragen, handelt es sich hierbei um Zweckmäßigkeitsüberlegungen, die im Rahmen der Auslegung von Vergütungsvorschriften nicht zu berücksichtigen sind. Diese stehen zudem im Widerspruch zur inneren Systematik des OPS 8-980, der mit der Behandlungsleitung durch einen Facharzt mit der Zusatzweiterbildung “Intensivmedizin” ein hiervon unabhängiges weiteres Mindestmerkmal formuliert.
28 dd) Im Übrigen sehen auch die Empfehlungen der DIVI zur Struktur und Ausstattung von Intensivstationen vom 30.11.2010 (DIVI-Empfehlungen, abrufbar unter https://www.divi.de/joomlatools-files/docman-files/publikationen/intensivmedizin/20101130-publikationen-empfehlungenzur-struktur-v-intensivstationen-langversion.pdf, zuletzt aufgerufen am 24.6.2024) zusätzlich zur 24-stündigen Präsenz eines in der Intensivmedizin erfahrenen Arztes eine durchgehende fachliche Hintergrundabsicherung durch einen besonders qualifizierten Facharzt vor. Zwar handelt es sich dabei lediglich um Empfehlungen mit unterschiedlichen Empfehlungsgraden, die nicht zwingend den wissenschaftlich-medizinischen Standard wiedergeben und der OPS 8-980 hat diese Empfehlungen nicht einfach übernommen. Es ist aber auch nichts dafür ersichtlich, dass der OPS abweichend von dem dortigen Grundgedanken einer durchgehenden, besonders qualifizierten und engmaschigen Hintergrundabsicherung verstanden werden könnte. Eine gewisse Anlehnung ist zu erkennen.
29 Die DIVI-Empfehlungen widersprechen jedenfalls nicht bloß nicht dem gefundenen Auslegungsergebnis. Sie stehen sogar der Annahme entgegen, es existiere ein einheitlicher wissenschaftlich-medizinischer Sprachgebrauch, der unter dem Erfordernis der Behandlungsleitung durch einen Facharzt mit der Zusatzweiterbildung “Intensivmedizin” nur eine organisatorische Leitung und allenfalls stichprobenartige Überwachung der Behandlung auf der Intensivstation verstehe.
30 4. Ausgehend von den vorgenannten Maßstäben war in dem streitigen Behandlungsfall das von OPS 8-980 geforderte Mindestmerkmal der Behandlungsleitung durch einen Facharzt mit der Zusatzweiterbildung “Intensivmedizin” nicht erfüllt.
31 Nach den von den Beteiligten nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und den erkennenden Senat damit bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) waren die im Krankenhaus des Klägers in der streitigen Zeit auf der Intensivstation dienstplanmäßig tätigen Fachärzte mit der Zusatzweiterbildung “Intensivmedizin” (B und P) in der Zeit vom 8.1.2016 15:30 Uhr bis 11.1.2016 7:00 Uhr nicht im Dienst. Insbesondere bestand nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG auch keine Rufbereitschaft. Sie konnten damit eine Behandlungsleitung nicht wahrnehmen. Die Abwesenheit der Behandlungsleitung umfasst eine Zeit von 63,5 Stunden und damit mehr als zwei Tage.
32 Soweit der Kläger pauschal behauptet, für die Behandlungsleitung habe auch der – ebenfalls über die Zusatzweiterbildung “Intensivmedizin” verfügende – Oberarzt M zur Verfügung gestanden, greift er nicht mit einer Verfahrensrüge die entgegenstehende Feststellung des LSG an, dass eine Vertretung in der Behandlungsleitung durch diesen weder im konkreten Einzelfall noch strukturell erkennbar sei.
33 5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 1, Abs 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und 3 sowie § 47 Abs 1 GKG.