Bundessozialgericht B 1 KR 35/20 R

Kernpunkte:

  • Eine Entwöhnung von der Beatmung setzt eine vorherige Gewöhnung an der Beatmung voraus.
  • Die Gewöhnung ist wie folgt zu definieren: Der Patient war während der Spontanatmungsphasen in seiner Fähigkeit, über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen zu können, eingeschränkt. (RdNr 11)
  • Zusätzliche Anforderungen an einer Gewöhnung, wie z. B. Adaptation an ein Beatmungsgerät oder Schwächung der Atemmuskulatur, werden nicht gestellt. (RdNr 10)
  • Wenn die Behandlungsakte keine Entwöhnungsmethode explizit benennt, muss das Gericht im Rahmen seiner Ermittlungspflicht eine weitere Beweiserhebung vornehmen. (RdNr 12)

 

Bundessozialgericht

Verkündet am
10. März 2022

Im Namen des Volkes

Urteil

in dem Rechtsstreit

 

BSG Az.: B 1 KR 35/20 R

LSG Baden-Württemberg 23.07.2019 – L 11 KR 717/18 ZVW

SG Ulm 06.08.2015 – S 13 KR 3667/13

 

…………………………………..

Klägerin und Revisionsklägerin,

Prozessbevollmächtigte:

……………………………………,

gegen

AOK Baden-Württemberg
Presselstraße 19, 70191 Stuttgart,

 

Beklagte und Revisionsbeklagte.

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 10. März 2022 durch den Präsidenten Prof. Dr. S c h l e g e l , die Richter Dr. S c h o l z und Dr. B o c k h o l d t sowie den ehrenamtlichen Richter R a t t e y und die ehrenamtliche Richterin C h r i s t o p h – T o j e k

für Recht erkannt:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. Juli 2019 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 6174,49 Euro festgesetzt.

Gründe

I

 

1

Die Beteiligten streiten über die Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung.

2

Die Klägerin ist Trägerin eines nach § 108 SGB V zugelassenen Krankenhauses. Sie behandelte einen bei der beklagten Krankenkasse Versicherten vollstationär vom 19.1. bis 1.2.2011 wegen eines generalisierten epileptischen Anfalls mit Verdacht auf Aspirationspneumonie und Tachypnoe. In der Zeit vom 27.1. (23:10 Uhr) bis 1.2. (15:00 Uhr) wurde er bei klinischem Bild einer Sepsis mit Tachypnoe und peripherem Kreislaufversagen intensivmedizinisch versorgt und zur Stabilisierung der Atmungs- und Kreislaufsituation über das Maskensystem Evita 4 intermit- tierend nicht invasiv beatmet (NIV-Beatmung). Das Maskensystem unterstützte die Atmung des Versicherten kalendertäglich jeweils mehr als sechs Stunden. Die reine Beatmungszeit betrug 77 Stunden. In den Spontanatmungsphasen kam Sauerstoffinsufflation zum Einsatz. Die Klägerin berechnete die Fallpauschale (Diagnosis Related Group 2011 <DRG>) A13G (Beatmung > 95 und < 250 Stunden ohne komplexe oder bestimmte OR-Prozedur, ohne intensivmedizinische Komplexbehandlung > 552 Punkte, ohne kompliz. Konstellation, Alter > 15 Jahre, oder verstor- ben oder verlegt < 9 Tage, ohne kompl. Diagnose, ohne kompl. Prozedur) und erhielt hierfür 10685,48Euro. Die Beklagte forderte später vergeblich 6174,49Euro auf der Grundlage mehrerer Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zurück. Abzurechnen sei die geringer vergütete DRG B76C (Anfälle, mehr als ein Belegungstag, ohne komplexe Diagnostik und Therapie, mit schw. CC, Alter < 3 Jahre oder mit komplexer Diagnose oder mit äußerst schw. CC, Alter > 15 Jahre oder ohne äußerst schw. oder schw. CC, mit EEG, mit kompl. Diagnose). Die Beklagte kürzte in dieser Höhe unstreitige Rechnungsbeträge für die Vergütung der Behandlung anderer Versicherter. Das SG hat die Beklagte – ua nach Einholung eines anästhesiologischen Gutachtens – verurteilt, der Klägerin 6174,49 Euro nebst Zinsen zu zahlen (Urteil vom 6.8.2015). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Die beatmungsfreien Intervalle seien zur Beatmungszeit hinzuzurechnen, die damit über 95 Stunden betrage. Dies folge aus einer strengen Wortlautauslegung der Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) für 2011: Die Beatmung ende nach einer Periode der Entwöhnung. Das Ende der Entwöhnung könne nur retrospektiv nach Eintreten einer stabilen respiratorischen Situation festgestellt werden; als Zeitraum einer vollständigen Spontanatmung ohne maschinelle Unterstützung würden für Patienten, die (inklusive Entwöhnung) bis zu sieben Tage beatmet würden, 24Stunden definiert. Weitere Anforderungen, etwa, dass eine Entwöhnung die vorherige Gewöhnung an das Atemgerät voraussetze, könnten den DKR nicht entnommen werden (Urteil vom 15.11.2016).

3

Der erkennende Senat hat das LSG-Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen: Die für die Kodierung von Spontanatmungs- stunden als Beatmungsstunden erforderliche Entwöhnung setze eine vorherige Gewöhnung des Patienten an die maschinelle Beatmung und den Einsatz einer Methode der Entwöhnung voraus. Hierzu habe das LSG noch weitere Feststellungen zu treffen (Urteil vom 19.12.2017 – B 1 KR 18/17 R – SozR 4-5562 § 9 Nr 8). Das LSG hat im wiedereröffneten Berufungsverfahren nach Einholung eines Sachverständigengutachtens bei Prof. Dr. B., Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik V, Klinikum der L-M-Universität M. und Vorlage weiterer Gutachten durch die Beteiligten das SG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen: Nach der BSG-Rechtsprechung sei der Begriff der Entwöhnung im Sinne der DKR 1001h enger zu verstehen als der in der medi- zinischen Fachsprache anzutreffende Begriff des sog Weaning. Er setze einschränkend voraus, dass die eigene Spontanatmung des Patienten nicht alleine aufgrund der behandelten Erkran- kung beeinträchtigt, sondern gerade auch durch eine Adaption des Patienten an das Beatmungs- gerät eingeschränkt werde, etwa weil die Atemmuskulatur infolge der maschinellen Beatmung an Leistungskraft verloren habe, Lungengewebe durch den Beatmungsdruck zerstört oder die Atem- regulation gestört worden sei. Denkbar sei ebenfalls, dass sich ein von Geburt an beatmeter Säugling an die maschinelle Beatmung gewöhnt habe, weil er bislang zu keinem Zeitpunkt spon- tan geatmet habe. Unter Beachtung dieser Vorgaben lasse sich eine “Gewöhnung” des Versi- cherten an die Beatmung in dem dargestellten Sinn nicht feststellen. Der Senat folge dem Gut- achten von Prof. Dr.B. insoweit nicht, denn dieser begründe die von ihm ab dem 27.1.2011 23:20 Uhr angenommene Gewöhnung des Versicherten an die maschinelle Beat- mung mit der durch den Beginn der maschinellen Beatmung belegten Abhängigkeit vom Respi- rator. Lasse sich eine Gewöhnung nicht feststellen, liege nach der BSG-Rechtsprechung keine Entwöhnung vor und die beatmungsfreien Intervalle könnten zur Gesamtdauer der Beatmungs- zeit nicht hinzugerechnet werden. Insoweit komme es auch nicht mehr entscheidend darauf an, dass vorliegend anhand der Aufzeichnungen in der Patientenakte nicht feststellbar sei, ob der Versicherte zielgerichtet mit einer Methode der Entwöhnung behandelt worden sei. Auch die feh- lende Dokumentation einer zielgerichteten Entwöhnung, für die das Krankenhaus die Beweislast trage, stehe der Hinzurechnung der beatmungsfreien Intervalle zur Gesamtbeatmungszeit entge- gen (Urteil vom 23.7.2019).

4

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung von § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V iVm § 17b des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, § 1 Abs 1, § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 1, § 9 Abs 1 Nr 1 und 3 des Krankenhausentgeltgesetzes und den Regelungen der DKR zur Berechnung der Beatmungsdauer: Das LSG habe den Begriff der Entwöhnung im Sinne der DKR unzutreffend und abweichend von der Rechtsprechung des erkennenden Senats angewandt.

5

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. Juli 2019 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 6. August 2015 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. Juli 2019 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

6

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7
  1. Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

II

 

 

8

Die zulässige Revision des klagenden Krankenhauses ist im Sinne der Aufhebung und Zurück- verweisung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG hat den Vergütungsanspruch des Krankenhauses verneint, da weder die für die Kodierung der abgerechneten Beatmungsstunden erforderliche Gewöhnung des Versicherten an die maschinelle Beatmung, noch der Einsatz einer Methode der Entwöhnung habe nachgewiesen werden können. Es ist hierbei davon ausgegan- gen, der Begriff der Entwöhnung iS der DKR 1001h setze nach der Rechtsprechung des erken- nenden Senats über den medizinischen Sprachgebrauch in Bezug auf das sog Weaning hinaus einschränkend voraus, dass die eigene Spontanatmung des Patienten nicht alleine aufgrund der behandelten Erkrankung beeinträchtigt, sondern gerade auch durch eine Adaption des Patienten an das Beatmungsgerät eingeschränkt worden sei, etwa weil die Atemmuskulatur infolge der maschinellen Beatmung an Leistungskraft verloren habe, Lungengewebe durch den Beatmungs- druck zerstört oder die Atemregulation gestört worden sei. Es ist weiter davon ausgegangen, dass auch die fehlende Dokumentation einer zielgerichteten Entwöhnung der Hinzurechnung der beatmungsfreien Intervalle zur Gesamtbeatmungszeit entgegenstehe.

9

Dies hält einer revisionsgerichtlichen Überprüfung nicht stand:

Entwöhnung iS der DKR 1001h ist ein methodisch geleitetes Vorgehen zur Beseitigung der erheblichen Einschränkung oder des Verlustes der Fähigkeit, über einen längeren Zeitraum voll- ständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen zu können (vgl BSG vom 17.12.2020 – B 1 KR 13/20 R – juris RdNr 16). Der intensivmedizinisch versorgte Patient (vgl BSG vom 17.12.2019 – B 1 KR 19/19 R – SozR 4-5562 § 9 Nr 15 RdNr 18) muss vom Beatmungsgerät durch den Einsatz einer Methode der Entwöhnung entwöhnt worden sein, weil zuvor eine Gewöhnung an die maschinelle Beatmung eingetreten war (vgl BSG vom 19.12.2017 – B 1 KR 18/17 R – SozR 4-5562 § 9 Nr 8 RdNr 16; BSG vom 30.7.2019 – B 1 KR 13/18 R – SozR 4-5562 § 9 Nr 13 RdNr 25; BSG vom 17.12.2020 – B 1 KR 13/20 R – juris RdNr 17).

10

1. Vor dem Hintergrund der an dem Begriff der “Gewöhnung” geübten Kritik hat der erkennende Senat zwischenzeitlich – nach der angefochtenen Entscheidung des LSG – klargestellt, dass die “Gewöhnung an die maschinelle Beatmung” als Voraussetzung für eine Entwöhnung vom Beat- mungsgerät im Sinne der DKR 1001h lediglich “die erhebliche Einschränkung oder den Verlust der Fähigkeit erfordert, über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unter- stützung spontan atmen zu können” (vgl BSG vom 17.12.2020 – B 1 KR 13/20 R – juris RdNr 19; vgl auch schon BSG vom 19.12.2017 – B 1 KR 18/17 R – SozR 4-5562 § 9 Nr 8 RdNr 16). Hierfür genügt weder, dass die Beatmung als solche medizinisch notwendig ist, noch sind weitere Voraussetzungen zu erfüllen, etwa eine Adaption des Patienten an den Respirator oder eine beatmungsbedingte Schwächung der Atemmuskulatur (vgl hierzu im Einzelnen BSG vom 17.12.2020, aaO, RdNr 17 ff mwN).

11

Das LSG muss daher im wiedereröffneten Berufungsverfahren feststellen, ob und ggf wann eine Gewöhnung (iS von Abhängigkeit) an den Respirator nach diesen Grundsätzen eingetreten ist und wie lange sie ggf angedauert hat. Hierzu genügt nicht die Feststellung, dass die Beatmung medizinisch notwendig war. Vielmehr ist die Feststellung erforderlich, dass der Patient während der Spontanatmungsphasen in seiner Fähigkeit eingeschränkt war, über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen zu können. Es richtet sich nach den medizinischen Umständen des Einzelfalls, ob eine stabile respiratorische Situation vorlag, oder eine Entwöhnung von maschineller Beatmung pulmologisch erforderlich war.

12

2. Weitere Voraussetzung der DKR 1001h neben der Gewöhnung in dem vorbeschriebenen Sinne ist die Anwendung einer Methode der Entwöhnung, dh ein methodisch geleitetes Vorgehen zur Beseitigung der Abhängigkeit von der maschinellen Beatmung. Es genügt hierfür nicht, dass ein Patient aus anderen Gründen – etwa wegen einer noch nicht hinreichend antibiotisch beherrschten Sepsis – nach Intervallen mit Spontanatmung wieder maschinelle nicht-invasive Beatmung erhält. Auch insoweit fehlen ausreichende Feststellungen des LSG. Es hat vielmehr lediglich festgestellt, dass eine zielgerichtete Entwöhnung des Versicherten nicht dokumentiert sei. Indes ist die den Tatsachengerichten obliegende Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) in Kran- kenhausvergütungsstreitigkeiten nicht auf die Auswertung der Patientendokumentation beschränkt. Insofern ist zur Feststellung, dass tatsächlich eine Methode der Entwöhnung ange- wandt wurde, zwar zunächst auf die Dokumentation des Krankenhauses zurückzugreifen (vgl zur sozialrechtlichen Dokumentationspflicht BSG vom 19.11.2019 – B 1 KR 33/18 R – SozR 4-2500 § 109 Nr 77 RdNr 16 ff mwN; zur Amtsermittlungspflicht vgl BSG vom 18.12.2018 – B 1 KR 40/17 R – SozR 4-7645 Art 9 Nr 1 RdNr 22; zur Vereinbarkeit der gerichtlichen Sachverhaltsauf- klärung mit den datenschutzrechtlichen Vorgaben vgl BSG vom 19.12.2017 – B 1 KR 19/17 R – BSGE 125, 91 = SozR 4-1500 § 120 Nr 3, RdNr 15 ff). Ihr Beweiswert ist hierbei jeweils im Einzelfall tatrichterlich zu bewerten, ggf unter Heranziehung sachverständiger Hilfe oder Rück- griff auf bereits vorliegende Sachverständigengutachten. Verbleiben danach aber Zweifel an Rechtserheblichem, muss das Gericht den Sachverhalt ergänzend aufklären, etwa durch Vernehmung der behandelnden Ärzte und der behandelten Versicherten (vgl BSG vom 19.11.2019 – B 1 KR 33/18 R – SozR 4-2500 § 109 Nr 77 RdNr 19). Lässt sich nach Ausschöpfen der gebotenen Aufklärung nicht feststellen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der abgerechneten Fallpauschale erfüllt gewesen sind, trägt das Krankenhaus die objektive Beweis- last für das Vorliegen dieser tatbestandlichen Voraussetzungen (vgl dazu zB BSG vom 14.10.2014 – B 1 KR 27/13 R – BSGE 117, 82 = SozR 4-2500 § 109 Nr 40, RdNr 17 f).

13

Das LSG muss daher unter Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Beweismittel weiter fest- stellen, ob das Krankenhaus eine Methode der Entwöhnung tatsächlich eingesetzt hat und die kodierten Spontanatmungsstunden in die Periode der Entwöhnung im dargelegten Sinn fielen.

14

3. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

15

4. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 GKG.