Bundessozialgericht B 1 KR 7/22 R

Kernpunkte:

  • Eine CMV-Infektion der Mutter in der Frühschwangerschaft begründet nicht den Einsatz von parenteralen Immunglobulinen (Cytotect) zu Lasten der GKV.
  • Eine CMV-Infektion des Embryos folgt nicht zwingend aus einer Infektion der Mutter. Wenn das Ungeborene infiziert wird, verlaufe die Infektion in 84% der Fälle ohne Schäden.
  • Es bestand eine arzneimittelrechtliche Zulassung von Cytotect für die Prophylaxe klinischer Manifestationen einer CMV-Infektion bei Patienten nur im Rahmen einer immunsuppressiven Therapie, insbesondere nach Organtransplantationen, nicht aber bei Schwangeren zum Schutz des ungeborenen Kindes. RdNr 10
  • Es müssen für ein Off-Label-Use Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen. RdNr 16
  • Alternativ kann als Begründung aufgrund zuverlässiger, wissenschaftlicher Aussagen in einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen eines Einsatzes eines Medikamentes im neuen Anwendungsgebiet bestehen. RdNr 17
  • Eine mögliche Begründung ist auch ein Seltenheitsfall: Hierzu darf das festgestellte Krankheitsbild aufgrund seiner Singularität medizinisch nicht erforschbar sein. RdNr 18
  • Eine Leistungspflicht kann auch bestehen bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. RdNr 20
  • Eine Schädigung der Leibesfrucht steht der Erkrankung der Mutter gleich. RdNr 23

Bundessozialgericht

Verkündet am
24. Januar 2023

gegen

AOK Bayern – Die Gesundheitskasse,
Carl-Wery-Straße 28, 81739 München,

Im Namen des Volkes

Urteil

in dem Rechtsstreit

 

BSG Az.: B 1 KR 7/22 R
Bayerisches LSG 25.11.2021 – L 4 KR 318/18
SG München 21.03.2018 – S 7 KR 1723/15

 

…………………………………..

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 24. Januar 2023 durch den Präsidenten Prof. Dr. Schlegel, die Richter
Dr. Estelmann und Dr. Bockholdt sowie den ehrenamtlichen Richter Dr. Meeßen und die ehrenamtliche Richterin Prof. Dr. Brandl für Recht erkannt:

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. November 2021 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

1

Die Beteiligten streiten um die Erstattung der Kosten eines von der Klägerin selbst beschafften Fertigarzneimittels.

2

Die Klägerin ist Versicherte der beklagten Krankenkasse (KK). Am 25.9.2015 wurde bei ihr eine Primärinfektion mit dem humanen Zytomegalievirus (CMV) festgestellt. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich in der neunten Schwangerschaftswoche. Am 5.10.2015 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Versorgung mit dem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel Cytotect CP Biotest (CMV-Hyperimmunglobulin als Infusionslösung, im Folgenden Cytotect). Cytotect ist in Deutschland zur Prophylaxe einer CMV-Infektion im Rahmen einer immunsuppressiven Therapie insbesondere nach Organtransplantationen arzneimittelrechtlich zugelassen. Eine Zulassung der Europäischen Arzneimittel-Agentur lag nicht vor. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 5.10.2015, Widerspruchsbescheid vom 1.12.2015). Die Klägerin beschaffte sich das Arzneimittel selbst und wendete hierfür insgesamt 8753,55 Euro auf (Infusionen am 7.10.2015, 22.10.2015 und 18.11.2015).

3

Das SG hat die Beklagte zur Zahlung dieses Betrages nebst Zinsen verurteilt (Urteil vom 21.3.2018). Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Beklagte habe es zu Recht abgelehnt, die Klägerin mit Cytotect zu versorgen. Das Fertigarzneimittel sei in Deutschland bzw der EU nicht für den gewählten Anwendungsbereich zugelassen. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf Versorgung im Rahmen eines Off-Label-Use, da im Jahr 2015 weder eine abgeschlossene Phase III-Studie zum Einsatz von CMV-Hyperimmunglobulin während der Schwangerschaft vorgelegen noch in einschlägigen Fachkreisen aufgrund zuverlässiger, wissenschaftlicher Aussagen Konsens über einen Nutzen im neuen Anwendungsgebiet bestanden habe. Ein Leistungsanspruch habe auch nicht nach § 2 Abs 1a SGB V bestanden. Zwar habe wegen des Infektionsrisikos für das Kind eine Krankheit vorgelegen. Selbst wenn es zu einer Infektion des ungeborenen Kindes komme, sei eine solche aber weder lebensbedrohlich noch regelmäßig tödlich verlaufend noch zumindest wertungsmäßig hiermit vergleichbar, da die Wahrscheinlichkeit der Risikoverwirklichung zu gering sei. Die Wahrscheinlichkeit, dass das ungeborene Kind durch die CMV-Infektion keinen schweren Schaden erleiden werde, liege statistisch etwa bei 84 Prozent und sei deutlich höher als die Wahrscheinlichkeit einer schweren oder gar tödlichen CMV-bedingten Schädigung, die zwar möglich, aber eher unwahrscheinlich gewesen sei. Schließlich habe es auch an einer auf Indizien gestützten, nicht ganz fernliegenden Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf gefehlt.

4

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 2 Abs 1a SGB V, Art 2 Abs 2 GG sowie § 128 Abs 1 SGG. Zu Unrecht habe das LSG einen Sachleistungsanspruch verneint. Eine notstandsähnliche Situation habe vorgelegen, da die Virusübertragung auf das ungeborene Kind jederzeit habe erfolgen können. Der Fall der Klägerin gebiete es, das Leistungsrecht des SGB V aus Gründen des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes des ungeborenen Lebens anzupassen. Die Möglichkeit schwerwiegender, irreversibler Schädigungen und des Versterbens habe im Raume gestanden. Das LSG habe eine zu geringe Infektionswahrscheinlichkeit festgestellt, sie liege bei bis zu 45 Prozent. Auch die Wahrscheinlichkeit schwerer Schäden oder des Versterbens liege mit mehr als 25 Prozent deutlich höher als vom LSG angenommen. Das LSG überhöhe die rechtlichen Anforderungen und weiche mit der Forderung einer “überwiegenden Wahrscheinlichkeit” von der höchstrichterlichen Rechtsprechung ab. Ausreichend sei danach eine “große Wahrscheinlichkeit”, die hier vorgelegen habe. Das LSG verkenne zudem den präventiven Charakter von § 2 Abs 1a SGB V; eine Infektion des Kindes dürfe nicht abgewartet werden. Schließlich gehe das LSG fehlerhaft davon aus, dass die gewählte Therapie weniger als eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf geboten habe. Studiendaten würden Indizien für einen Therapieerfolg von Cytotect aufzeigen.

5

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. November 2021 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 21. März 2018 zurückzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. November 2021 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

 6

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

7

Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.

 

II

 

 

 

8

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zu Recht hat das LSG das stattgebende Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die auf die Erstattung der Kosten des von der Klägerin selbst beschafften Arzneimittels nebst Zinsen gerichtete Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) zulässig. Sie ist jedoch unbegründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig. Der Klägerin steht der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch nicht zu.

9

Als Anspruchsgrundlage für den Kostenerstattungsanspruch kommt allein § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V in Betracht. Danach hat die KK, wenn sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, die Kosten in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Dieser Kostenerstattungsanspruch reicht in beiden Alternativen nicht weiter als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch. Er setzt daher voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die KKn allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (vgl BSG vom 2.9.2014 – B 1 KR 3/13 R – BSGE 117, 1 = SozR 4-2500 § 28 Nr 8, RdNr 15 mwN). Daran fehlt es. Der Klägerin stand auf der Grundlage der nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffenen und den Senat deshalb bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG kein Anspruch gegen die Beklagte auf Versorgung mit dem Arzneimittel Cytotect zu.

10

1. Nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst ua die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 iVm § 31 Abs 1 SGB V). Nach § 31 Abs 1 SGB V können die Versicherten jedoch auch während Schwangerschaft und Entbindung grundsätzlich nur die Versorgung mit einem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beanspruchen, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem es angewendet werden soll (stRspr; vgl BSG vom 20.3.2018 -B1KR 4/17R- SozR 4-2500 §2 Nr12 RdNr11; BSG vom 19.3.2020 -B1KR 22/18 R – juris RdNr 13, jeweils mwN). Nach den Feststellungen des LSG bestand jedoch eine arzneimittelrechtliche Zulassung von Cytotect für die Prophylaxe klinischer Manifestationen einer CMV-Infektion bei Patienten nur im Rahmen einer immunsuppressiven Therapie, insbesondere nach Organtransplantationen, nicht aber bei Schwangeren zum Schutz des ungeborenen Kindes.

11

2. Es kann dahinstehen, ob für die schwangere Klägerin ein Anspruch auf Arzneimittelversorgung nach § 24c Nr 2 iVm § 24e Satz 1 SGB V in Betracht gekommen wäre.

12

Insofern kann offenbleiben, ob die Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft nach §§ 24c ff SGB V auch kurative Leistungen zur Behandlung eines pathologischen Zustandes umfassen und insoweit den Regelungen über die Leistungen bei Krankheit gemäß §§ 27 ff SGB V vorgehen (verneinend BSG vom 15.9.1977 – 6 RKa 6/77 – SozR 5532 § 3 Nr 1 S 4 = juris RdNr 16; Meßling in Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 24d SGB V RdNr 27 ff, Stand 2019; bejahend Hessisches LSG vom 25.10.2016 – L 1 KR 201/15 – juris RdNr 42; LSG Baden-Württemberg vom 7.5.2014 – L 5 KR 898/13 – juris RdNr 32 ff). Darauf kommt es vorliegend nicht an. Denn auch im Rahmen der Verweisung des § 24e Satz 2 auf § 31 SGB V besteht nur Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln, die für die jeweilige Indikation zugelassen sind.

13

3. Dasselbe gilt – unabhängig von Abgrenzungsfragen zu Ansprüchen nach §§ 24c ff und §§ 27 ff SGB V – auch für Ansprüche im Rahmen einer Vorsorgebehandlung nach § 23 Abs 1 SGB V (vgl § 23 Abs 3 iVm § 31 SGB V).

14

4. Die Klägerin konnte die Versorgung mit Cytotect auch nicht im Rahmen eines Off-Label-Use iVm einer der vorgenannten Anspruchsgrundlagen beanspruchen.

15

a) Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) hat den Einsatz von Cytotect zur Behandlung von Schwangeren zum Schutz des ungeborenen Kindes nicht auf der Grundlage einer Empfehlung nach § 35c Abs 1 SGB V in der Richtlinie nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 SGB V zugelassen (vgl Anlage VI zu Abschnitt K der Arzneimittel-Richtlinie vom 18.12.2008/22.1.2009, BAnz 2009, Nr 49a <Beilage>, in der hier maßgeblichen, ab 5.5.2015 geltenden Fassung des Beschlusses vom 19.2.2015, BAnz AT vom 4.5.2015 B1). Die Behandlung erfolgte auch nicht im Rahmen einer klinischen Studie iS des § 35c Abs 2 SGB V.

16

b) Auch die Voraussetzungen für die daneben weiterhin anwendbaren, allgemeinen, vom erkennenden Senat entwickelten Grundsätze für einen Off-Label-Use zulasten der GKV liegen nicht vor (zu diesen Voraussetzungen vgl BSG vom 13.12.2016 – B 1 KR 1/16 R – BSGE 122, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 28, RdNr 26 – IVIG; BSG vom 11.9.2018 – B 1 KR 36/17 R – juris RdNr 14 – Avastin; vgl aus der Rspr des für das Vertragsarztrecht zuständigen 6. Senats zB BSG vom 13.8.2014 – B 6 KA 38/13 R – SozR 4-2500 § 106 Nr 47 RdNr 31; zur Verfassungsmäßigkeit vgl BVerfG vom 30.6.2008 – 1 BvR 1665/07 – BVerfGK 14, 46, 48 f = SozR 4-2500 § 31 Nr 17 RdNr 10 f). Es fehlt an einer im Zeitpunkt der Behandlung aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht. Dafür müssten Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen also Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen (vgl zB BSG vom 26.9.2006 – B 1 KR 1/06 R – BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr5, RdNr19f -Ilomedin; BSG vom 8.11.2011 -B1KR 19/10R- BSGE 109, 211 = SozR 4-2500 § 31 Nr 19, RdNr 17 mwN – BTX/A; BSG vom 20.3.2018 – B 1 KR 4/17 R – SozR 4-2500 § 2 Nr 12 RdNr 16 – IVIG; BSG vom 19.3.2020 – B 1 KR 22/18 R – juris RdNr 18 – Rituximab).

17

Nach den insoweit unangegriffenen Feststellungen des LSG lag im Behandlungszeitraum 2015 weder eine veröffentlichte Phase III-Studie zum Einsatz von CMV-Hyperimmunglobulin zur Anwendung im Rahmen einer primären CMV-Infektion in der Schwangerschaft vor, noch bestand aufgrund zuverlässiger, wissenschaftlicher Aussagen in einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen eines Einsatzes von CMV-Hyperimmunglobulin im neuen Anwendungsgebiet.

18

c) Auch ein sog Seltenheitsfall lag nicht vor. Hierzu darf das festgestellte Krankheitsbild aufgrund seiner Singularität medizinisch nicht erforschbar sein (stRspr; vgl BSG vom 19.3.2020 – B 1 KR 22/18 R – juris RdNr 28 mwN). Die vor und zum Behandlungszeitpunkt laufenden Studien zum Einsatz von CMV-Hyperimmunglobulin zum Schutz ungeborener Kinder in der Schwangerschaft belegen vorliegend die Erforschbarkeit.

19

5. Ein Anspruch der Klägerin bestand schließlich nicht nach § 2 Abs 1a SGB V.

20

Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.

21

Die Klägerin und ihr ungeborenes Kind litten zwar an einer behandlungsbedürftigen Krankheit (dazu a und b). Diese war aber nicht lebensbedrohlich oder regelmäßig tödlich oder hiermit wertungsmäßig vergleichbar (dazu c).

22

a) Einem Anspruch nach § 2 Abs 1a SGB V steht nicht entgegen, dass das streitige Arzneimittel Cytotect nicht der Behandlung der Klägerin als Versicherte diente, sondern dem Schutz ihres ungeborenen Kindes vor einer Infektion.

23

Eine Schädigung der Leibesfrucht steht der Erkrankung der Mutter gleich (vgl BSG vom 24.1.1990 – 3 RK 18/88 – BSGE 66, 163, 165 = SozR 3-2200 § 182 Nr 1 S 165 = juris RdNr 15; vgl auch Richtlinien des GBA über die ärztliche Betreuung während der Schwangerschaft und nach der Entbindung – “Mutterschafts-Richtlinien”, hier idF des Beschlusses vom 19.2.2015, BAnz AT vom 4.5.2015 B3, S 2 Ziff 1). Auch die hier vorliegende bloße Gefahr einer Infektion des ungeborenen Kindes und deren potentiell schwerwiegenden Folgen sind wie eine mögliche Gesundheitsbeeinträchtigung der Klägerin selbst zu behandeln. Dies ergibt sich aus der naturgemäß bestehenden wechselseitigen Abhängigkeit von Mutter und ungeborenem Kind und dem verfassungsrechtlichen Schutz des ungeborenen Lebens (siehe dazu noch RdNr 30).

24

b) Krankheit ist ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (stRspr; vgl nur BSG vom 19.10.2004 – B 1 KR 28/02 R – SozR 4-2500 § 27 Nr 2 RdNr 6 mwN auch zur Rechtslage unter Geltung der RVO = juris RdNr 13; BT-Drucks 11/2237 S 170). Krankheitswert im Rechtssinne kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu. Erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder dass er an einer Abweichung vom Regelfall leidet, die entstellend wirkt (stRspr; vgl BSG vom 10.3.2022 – B 1 KR 3/21 R – BSGE 134, 13 = SozR 4-2500 § 27 Nr 31 RdNr 10 mwN).

25

Nach den bindenden Feststellungen des LSG war zwar die Klägerin durch die Infektion nicht in ihren Körperfunktionen beeinträchtigt und ihr ungeborenes Kind (noch) nicht infiziert. Jedoch kann auch das Risiko einer Erkrankung eine behandlungsbedürftige Krankheit im Rechtssinne begründen (eingehend Hauck, NJW 2016, 2695 ff). Dies gilt etwa dann, wenn bei einer vorliegenden Grunderkrankung, die selbst noch keine Behandlungsbedürftigkeit verursacht, das Risiko einer wahrscheinlichen Verschlimmerung der Folgen besteht und eine möglichst frühzeitige Behandlung den größten Erfolg verspricht (vgl BSG vom 28.10.1960 – 3 RK 29/59 – BSGE 13, 134, 136 = Breith 1961, 298, 299 f = juris RdNr 15: angeborene Fehlform des Stütz- und Bewegungssystems bei einem Kind; BSG vom 18.11.1969 – 3 RK 75/66 – BSGE 30, 151, 152 f = SozR Nr 37 zu § 182 RVO S 34: Risiko der Leidensverschlimmerung ohne Prothese; BSG vom 20.10.1972 – 3 RK 93/71 – BSGE 35, 10, 13 = SozR Nr 52 zu § 182 RVO S 48 = juris RdNr 24: mögliche Folgeerkrankungen bei unbehandelter Fehlstellung des Kiefers). Gleiches gilt, wenn eine Krankheit, deren Folgen oder deren Behandlung zwangsläufig oder mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Erkrankungen nach sich zieht (vgl BSG vom 16.11.1999 – B 1 KR 9/97 R – BSGE 85, 132, 137 = SozR 3-2500 § 27 Nr 12 S 63 = juris RdNr 22: Gefahr eines “diabetischen Fußes”; BSG vom 17.2.2010 – B 1 KR 10/09 R – SozR 4-2500 § 27 Nr 18 RdNr 16: Verlust der Empfängnisfähigkeit durch Chemotherapie). Eine Krankheit liegt ohne eine Grunderkrankung auch dann vor, wenn die Verwirklichung eines Risikos zwar nicht wahrscheinlich ist, jedoch die ernste Gefahr einer Erkrankung besteht und das Risiko einer unterbliebenen oder verspäteten Behandlung mit dem Ausmaß und der Schwere der sich möglicherweise entwickelnden Folgen außer Verhältnis steht (vgl BSG vom 23.2.1973 – 3 RK 82/72 – SozR Nr 56 zu § 182 RVO S 54 = juris RdNr 27: frühzeitige Behandlung von Kiefer- und Zahnstellungsanomalien; BSG vom 13.2.1975 – 3 RK 68/73 – BSGE 39, 167, 170 = SozR 2200 § 182 Nr 9 S 16 = juris RdNr 14: medizinisch indizierte Verhütung einer Schwangerschaft).

26

Dem Erkrankungsrisiko kommt immer dann ein Krankheitswert zu, wenn der/dem Versicherten im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung des potentiellen Schadens, seiner Eintrittswahrscheinlichkeit sowie der mit der Behandlung verbundenen Chancen, Risiken und Beeinträchtigungen nicht zuzumuten ist, dem Geschehen seinen Lauf zu lassen (vgl – zum genetisch bedingten erhöhten Brustkrebsrisiko – BVerwG vom 28.9.2017 – 5 C 10.16 – BVerwGE 160, 71 = juris RdNr 15; Hauck, NJW 2016, 2695, 2699). Dabei kommt es auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls an.

27

Danach begründeten das Risiko einer Übertragung der CMV-Infektion von der Klägerin auf ihr ungeborenes Kind und das daraus wiederum resultierende Risiko eines Aborts oder – wenn auch selten – von schwerwiegenden Schädigungen des Kindes im Verhältnis zur geringen Belastung durch die frühzeitige Behandlung mit Cytotect und deren mutmaßlich geringe Risiken, auch unter Berücksichtigung des fehlenden Nachweises der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Therapie, jedenfalls das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen Krankheit bei der Klägerin.

28

c) Diese Krankheit war iS des § 2 Abs 1a SGB V aber weder lebensbedrohlich noch regelmäßig tödlich oder hiermit wertungsmäßig vergleichbar.

29

aa) Eine Erkrankung ist lebensbedrohlich oder regelmäßig tödlich, wenn sie in überschaubarer Zeit das Leben beenden kann und dies eine notstandsähnliche Situation herbeiführt, in der Versicherte nach allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen müssen (vgl BVerfG vom 10.11.2015 – 1 BvR 2056/12 – BVerfGE 140, 229 = SozR 4-2500 § 92 Nr 18, RdNr 18). Nach den konkreten Umständen des Falles muss bereits drohen, dass sich mit großer bzw – gleichbedeutend – hoher Wahrscheinlichkeit der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums verwirklichen wird (stRspr; vgl BVerfG vom 11.4.2017 – 1 BvR 452/17 – SozR 4-2500 § 137c Nr 8 RdNr 25; BSG vom 20.3.2018 – B 1 KR 4/17 R – SozR 4-2500 § 2 Nr 12 RdNr 21 mwN; BSG vom 19.3.2020 – B 1 KR 20/19 R – BSGE 130, 73 = SozR 4-2500 §12 Nr18, RdNr25; BSG vom 19.3.2020 -B1KR 22/18R- juris RdNr21ff; BSG vom 10.3.2022 -B1KR 6/21R- SozR 4-2500 §13 Nr56 RdNr33). Wertungsmäßig hiermit vergleichbar sind beispielsweise der nicht kompensierbare, in naher Zeit drohende Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion (stRspr; vgl BSG vom 16.8.2021 – B 1 KR 29/20 R – SozR 4-2500 § 2 Nr 18 RdNr 13 mwN).

30

bb) Diese Maßstäbe gelten auch für die Behandlung von Schwangeren zum Schutz des ungeborenen Lebens. Das GG verpflichtet den Staat, menschliches Leben zu schützen. Hierzu gehört auch das ungeborene Leben. Der Staat ist verpflichtet, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen (vgl BVerfG vom 28.5.1993 – 2 BvF 2/90 – BVerfGE 88, 203, 251 = juris RdNr 157).

31

cc) Vorliegend bestand allerdings keine große Wahrscheinlichkeit einer lebensbedrohlichen, regelmäßig tödlichen oder wertungsmäßig hiermit vergleichbaren Erkrankung des ungeborenen Kindes der Klägerin.

32

Im Falle einer für das ungeborene Kind gefährlichen Infektion der Schwangeren liegt jedenfalls dann keine notstandsähnliche Lage vor, wenn – wie hier (dazu 4) – die Wahrscheinlichkeit der Geburt eines gesunden Kindes deutlich überwiegt. Dies ergibt sich aus Wortlaut, Systematik (dazu 1) und dem aus der Entstehungsgeschichte abzuleitenden Sinn und Zweck des § 2 Abs 1a SGB V (dazu 2). Die Schutzwirkungen der Grundrechte gebieten keine erweiternde Auslegung (dazu 3).

33

(1) § 2 Abs 1a SGB V gewährt einen Anspruch unter anderem bei “regelmäßig tödlichen” Erkrankungen. Der zeitnahe tödliche Krankheitsverlauf muss danach die Regel und ein nicht tödlicher Krankheitsverlauf die Ausnahme sein, sodass ein Vertrauen auf den Nichteintritt des Todes bei den Behandlungsentscheidungen letztlich keine ernsthafte Option mehr ist. Bei den gleichgestellten lebensbedrohlichen und wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankungen gilt kein geringerer Wahrscheinlichkeitsmaßstab, als bei den tödlichen Erkrankungen.

34

Soweit die Vorschrift auch lebensbedrohliche Erkrankungen genügen lässt, sind damit nur solche gemeint, die generell lebensbedrohlich sind und bei denen im konkreten Erkrankungsfall – nach Ausschöpfung der Standardtherapien – mit der Abwendung des nahen Todeseintritts ohne die begehrte Behandlung mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu rechnen ist (vgl BSG vom 20.3.2018 – B 1 KR 4/17 R – SozR 4-2500 § 2 Nr 12 RdNr 21).

35

(2) § 2 Abs 1a SGB V geht zurück auf den Beschluss des BVerfG vom 6.12.2005 (1 BvR 347/98 – BVerfGE 115, 25 S 41 f = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 17 ff – sog “Nikolaus-Beschluss”; vgl dazu auch BSG vom 16.8.2021 – B 1 KR 29/20 R – SozR 4-2500 § 2 Nr 18 RdNr 12 f). Danach folgt aus den Grundrechten nach Art 2 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip und nach Art 2 Abs 2 GG ein Anspruch auf Krankenversorgung in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung, wenn für sie eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht (mehr) zur Verfügung steht und die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verspricht. Die grundrechtsorientierte Auslegung des Leistungsrechts knüpft an das Leben als Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung an (vgl BVerfG, aaO, SozR, RdNr 25). Ein Versicherter, der an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, befindet sich in der “extremen Situation einer krankheitsbedingten Lebensgefahr”, in der er zur Lebenserhaltung nach allen verfügbaren medizinischen Mitteln greifen muss (vgl BVerfG, aaO, RdNr 34). Durch die Irreversibilität des Todes entsteht hierbei ein Zeitdruck, den das BVerfG als “notstandsähnliche Situation” umschrieben hat. Charakteristikum dieser notstandsähnlichen Extremsituation ist die unmittelbare und kurzfristige Behandlungsnotwendigkeit zur Lebenserhaltung (vgl BVerfG vom 10.11.2015 – 1 BvR 2056/12 – BVerfGE 140, 229, 235 f = SozR 4-2500 § 92 Nr 18 RdNr 17 ff; BVerfG vom 11.4.2017 – 1 BvR 452/17 – SozR 4-2500 § 137c Nr 8 RdNr 22; vgl hierzu auch BSG vom 19.3.2020 – B 1 KR 20/19 R – BSGE 130, 73 = SozR 4-2500 § 12 Nr 18, RdNr 25).

36

Das BSG hat diese verfassungsrechtlichen Vorgaben in der Folge näher konkretisiert und dabei in die grundrechtsorientierte Auslegung auch Erkrankungen einbezogen, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar sind (vgl BSG vom 19.3.2020 – B 1 KR 22/18 R – juris RdNr 20 mwN).

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Den erforderlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab für den voraussichtlich tödlichen Krankheitsverlauf haben das BSG und das BVerfG dahingehend konkretisiert, dass es sich um eine “große” bzw – gleichbedeutend – eine “hohe” Wahrscheinlichkeit handeln muss (vgl BSG vom 27.3.2007 – B 1 KR 17/06 R – RdNr 23; BSG vom 28.2.2008 – B 1 KR 16/07 R – BSGE 100, 103 = SozR 4-2500 § 31 Nr 9, RdNr 32; BSG vom 15.12.2015 – B 1 KR 30/15 R – BSGE 120, 170 = SozR 4-2500 § 34 Nr 18, RdNr 59; sowie die Nachweise oben in RdNr 29; BVerfG vom 11.4.2017 – 1 BvR 452/17 – SozR 4-2500 § 137c Nr 8 RdNr 25; vgl auch schon BVerfG vom 6.2.2007 – 1 BvR 3101/06 – juris RdNr 22; vgl ferner BVerfG vom 10.11.2015 – 1 BvR 2056/12 – BVerfGE 140, 229= SozR 4-2500 § 92 Nr 18 RdNr 17). Nur dann liegt eine notstandsähnliche Extremsituation vor, bei der der Versicherte nach allen verfügbaren medizinischen Mitteln greifen darf. Überwiegt dagegen die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht zu einer (besonders schwerwiegenden) Erkrankung kommt, kann der Versicherte auch darauf vertrauen und darf nicht zwingend auf Behandlungsalternativen zurückgreifen, deren Wirksamkeit und Unbedenklichkeit zweifelhaft ist.

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Ein abweichender Wahrscheinlichkeitsmaßstab hat sich auch nicht aus der Einbeziehung wertungsmäßig vergleichbarer Erkrankungen ergeben. Diese Einbeziehung war nach der neueren Rspr des BVerfG verfassungsrechtlich nicht geboten (vgl BVerfG vom 10.11.2015 – 1 BvR 2056/12 – BVerfGE 140, 229= SozR 4-2500 § 92 Nr 18 RdNr 17 f = KrV 2015, 236 mit insoweit zust Anm von Wallrabenstein; BVerfG vom 11.4.2017 – 1 BvR 452/17 – SozR 4-2500 § 137c Nr 8 RdNr 22). Sie bezieht sich allein auf die Schwere und das Ausmaß der krankheitsbedingten Beeinträchtigung sowie deren Irreversibilität (vgl auch Knispel, NZS 2020, 762: “Endpunkt” der Krankheit). Sie ermöglicht dagegen weder eine Reduzierung der Anforderungen an den die individuelle Notlage kennzeichnenden erheblichen Zeitdruck für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf (vgl BSG vom 19.3.2020 – B 1 KR 22/18 R – juris RdNr 23; BSG vom 16.8.2021 – B 1 KR 29/20 R – SozR 4-2500 § 2 Nr 18 RdNr 14 ff), noch wird der für das Vorliegen einer notstandsähnlichen Situation erforderliche Wahrscheinlichkeitsmaßstab reduziert (vgl auch BSG vom 19.3.2020 – B 1 KR 22/18 R – juris RdNr 26: Entscheidend ist nicht, wie häufig ein wichtiges Sinnesorgan oder eine herausgehobene Körperfunktion statistisch betroffen ist, sondern mit welcher Wahrscheinlichkeit innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums dessen/deren Verlust droht).

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Dieser Rspr des BVerfG und des BSG ist der Gesetzgeber mit der Kodifizierung des Anspruchs in § 2 Abs 1a SGB V gefolgt. Es sollten lediglich die bereits geltenden Anspruchsvoraussetzungen gemäß der grundrechtskonformen Auslegung durch das BVerfG und das BSG in das Gesetz übernommen und keine darüber hinausgehenden Leistungsansprüche begründet werden (siehe BT-Drucks 17/6906 S 52 f). In der Gesetzesbegründung wird nicht ausdrücklich auf eine große oder hohe Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Krankheitsverlaufs bzw des nicht kompensierbaren Verlusts eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion abgestellt, sondern nur darauf, dass sich dieser “innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums wahrscheinlich verwirklichen wird” (BT-Drucks 17/6906 S 53). Hieraus ist jedoch nicht zu schließen, der Gesetzgeber habe die Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsmaßstab gegenüber der vorausgegangenen Rspr des BVerfG und des BSG absenken wollen. Die Vorschrift des § 2 Abs 1a SGB V ist vielmehr auch insofern im Lichte dieser Rspr auszulegen.

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(3) Die Schutzwirkungen der Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Verbin- dung mit dem Sozialstaatsprinzip führen nicht zu einer erweiternden Auslegung des § 2 Abs 1a SGB V.

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Nach der Rspr des BVerfG ist entscheidend, dass der verfassungsrechtliche Anspruch von der durch eine nahe Lebensgefahr geprägten notstandsähnlichen Lage begründet wird. Dies erfordert sowohl einen gewissen Zeitdruck als auch eine hohe Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, sodass die Versicherten nach allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen müssen (siehe oben RdNr 35 ff). Fehlt es hieran, bestehen keine hinreichenden Gründe, um den gesetzgeberischen Spielraum bei der Ausgestaltung des Leistungsrechts der GKVzu überspielen (BVerfG vom 11.4.2017 – 1 BvR 452/17 – SozR 4-2500 § 137c Nr 8 RdNr 25). Der Gesetzgeber wollte sich dieses Spielraums durch die Härteklausel des § 2 Abs 1a SGB V nicht in einem über das verfassungsrechtlich gebotene Maß hinausgehenden Umfang begeben (vgl BT-Drucks 17/6906 S 52 f).

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Eine Ausweitung der Ansprüche der Versicherten der GKV auf Arzneimittel, die den arzneimittelrechtlichen Zulassungsstandards nicht genügen, muss auf eng umgrenzte Sachverhalte mit notstandsähnlichem Charakter begrenzt bleiben. Denn das Arzneimittelzulassungsrecht gewährleistet die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der im Verkehr befindlichen Arzneimittel, um gerade dem sich aus Art 2 Abs 2 Satz 1 GG ergebenden staatlichen Schutzauftrag Rechnung zu tragen. Es enthält institutionelle Sicherungen, die der Gesetzgeber im Interesse des Gesundheitsschutzes der Gesamtbevölkerung errichtet hat (vgl BSG vom 4.4.2006 – B 1 KR 7/05R- BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 §31 Nr4, RdNr25; BSG vom 11.9.2018 -B1KR 36/17 R – juris RdNr 16 f).

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(4) Für den Senat besteht zwar kein Zweifel, dass sich die Klägerin in einer besonders belastenden Situation befand, weil sie die Möglichkeit einer Infektion ihres Kindes und eines tödlichen oder besonders schwerwiegenden Verlaufs der Krankheit vor Augen hatte und ein erheblicher Zeitdruck bestand, da die Infektion in der neunten Schwangerschaftswoche festgestellt wurde und die begehrte Versorgung mit Cytotect die Übertragung auf das Kind verhindern sollte. Gleichwohl lag eine notstandsähnliche Lage in dem vorbeschriebenen Sinne nach den nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffenen (dazu <b>) Feststellungen des LSG (dazu <a>) nicht vor.

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(a) Nach den Feststellungen des LSG lag der Grad der Wahrscheinlichkeit einer Übertragung des Virus auf das ungeborene Kind der Klägerin nach Maßgabe ihrer Infektionszeit und der Schwangerschaftswoche statistisch bei 30 Prozent. Diese Infektionswahrscheinlichkeit bestand für die vor dem Ende des ersten Drittels der Schwangerschaft (prä- und perikonzeptionell, erstes Trimenon) infizierten Schwangeren. Das LSG stützt sich dabei auf Ausführungen des Sachverständigen H und betont, dass dieser auf eine Studie von Enders et al aus dem Jahr 2011 verweist. Diese Angaben sieht das LSG durch das MDK-Gutachten vom 14.7.2020 bestätigt. Auch die weiteren Zahlenangaben zur Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten und Schädigungsfolgen entnimmt das LSG diesen beiden Quellen. Es ergibt sich insoweit nach den Feststellungen des LSG folgendes Bild:

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Der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Aborts lag unter Zugrundelegung der höchsten berichteten Sterbenswahrscheinlichkeit für infizierte Föten statistisch bei 6 Prozent. Weitere 6 Prozent der Kinder weisen bei der Geburt Symptome auf, davon etwa die Hälfte schwerwiegende Symptome. Die Wahrscheinlichkeit von Folgeschädigungen bei asymptomatisch geborenen Kindern lag im schlechtesten Fall statistisch bei etwa 3,6 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass das ungeborene Kind durch die CMV-Infektion keinen schweren Schaden erleidet, ist damit – im Rahmen der allein möglichen statistischen Betrachtung – mit etwa 84 Prozent deutlich höher gewesen als die Wahrscheinlichkeit einer schweren oder gar tödlichen CMV-bedingten Schädigung.

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(b) Der Senat ist an diese Feststellungen gebunden, denn die Klägerin bringt diesbezüglich keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen vor (vgl § 163 SGG).

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Soweit sie von einer “fehlerhaften” Beweiswürdigung ausgeht und damit sinngemäß rügt, das LSG habe die Grenzen freier Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) überschritten, bezeichnet sie iS von § 164 Abs 2 Satz 3 SGG nicht alle Tatsachen, die den Mangel ergeben sollen. Notwendig hierfür ist eine Darlegung, die das Revisionsgericht in die Lage versetzt, sich allein anhand der Revisionsbegründung ein Urteil darüber zu bilden, ob die angegriffene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruhen kann. Im Falle der Rüge eines Verstoßes gegen die Grenzen freier Beweiswürdigung kann das Revisionsgericht nur prüfen, ob das Tatsachengericht bei der Beweiswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat, und ob es das Gesamtergebnis des Verfahrens ausreichend und umfassend berücksichtigt hat. Die Beweiswürdigung steht innerhalb dieser Grenzen im freien Ermessen des Tatsachengerichts (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG). Wer diesen Verfahrensverstoß rügt, muss das Vorliegen dieser Voraussetzungen im Einzelnen darlegen (stRspr; vgl BSG vom 7.11.2017 – B 1 KR 24/17 R – BSGE 124, 251 = SozR 4-2500 § 13 Nr 39, RdNr 26 mwN; BSG vom 14.3.2018 – B 12 KR 13/17 R – BSGE 125, 183 = SozR 4-2400 § 7 Nr 35, RdNr 13 mwN; BSG vom 26.5.2020 – B 1 KR 21/19 R – SozR 4-2500 § 13 Nr 54 RdNr 34). Eine formgerechte Verfahrensrüge einer Verletzung des Rechts der freien Beweiswürdigung liegt dagegen nicht vor, wenn die Revision lediglich ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des LSG setzt oder die eigene Würdigung der des Tatsachengerichts als überlegen bezeichnet (vgl BSG vom 7.4.1987 – 11b RAr 56/86 – SozR 1500 § 164 Nr 31 S 49 = juris RdNr 16). Ein solcher Fall liegt hier vor. Die Klägerin macht zwar sinngemäß geltend, das LSG habe nicht ausreichend das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt. Damit setzt sie aber lediglich ihre eigene Beweiswürdigung an die Stelle der des LSG. Die Klägerin greift die Beweiswürdigung des LSG mit dem Argument an, es beziehe sich bei seiner Feststellung einzig auf das MDK-Gutachten und eine singuläre Aussage aus dem Gutachten von H Die Klägerin verweist darauf, ein 30-prozentiges Risiko sei nur bei einer Infektion im ersten Trimenon von Enders et al beobachtet worden. Im Falle der Klägerin habe jedoch gutachterlich bestätigt eine prä- oder perikonzeptionelle Infektion vorgelegen, bei der die Transmissionswahrscheinlichkeit unter Umständen sogar bei 35 Prozent und höher (bis zu 45 Prozent) liegen könne. Die Klägerin verweist ferner auf die Erstfassung der AWMF-Leitlinie “Labordiagnostik schwangerschaftsrelevanter Virusinfektionen” aus dem Jahr 2014, in welcher bei einer perikonzeptionellen Primärinfektion der Mutter eine Abortrate von 17 – 90 Prozent angegeben wird.

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Die Klägerin beachtete hierbei nicht, dass das LSG die auf sie bezogenen gutachtlichen Ausführungen von H und die Studienergebnisse von Enders et al ausweislich der Wiedergabe im Tatbestand seines Urteils im Blick hatte. Eine dahingehende eigene Feststellung zum Zeitpunkt der Infektion hat das LSG in seinen Entscheidungsgründen aber nicht getroffen. Es hat sich insoweit nicht festgelegt. Die Klägerin hat damit nichts vorgetragen, aus dem sich ergeben könnte, dass das LSG das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend und umfassend berücksichtigt hätte. Dies gilt hier umso mehr, als in dem -ihrer Revisionsbegründung beigefügten – Gutachten von H auch die Ergebnisse einer Studie von Picone et al aus dem Jahr 2013 wiedergegeben sind. Sie weisen für die prä- und perikonzeptionelle Phase deutlich geringere Transmissionsraten von 8,8 und 19 Prozent aus (S 6 des Gutachtens). Nach den von der Klägerin wiedergegebenen Ausführungen des Sachverständigen H wurden bei einer prä- und perikonzeptionellen Primärinfektion Transmissionsraten von 17 und 35 Prozent beobachtet. Es liegt im Kernbereich der Beweiswürdigung des Gerichts bei der hier geringen Zahl von Studien und den erheblichen Schwankungsbreiten der Wahrscheinlichkeiten, einen ihm plausibel erscheinenden Wert – hier die 30 Prozent Infektionswahrscheinlichkeit – zugrunde zu legen, der angemessen all diese Schwankungsbreiten berücksichtigt und sich als eine zentrale Größe auch in den gutachtlichen Stellungnahmen wiederfindet. Im Übrigen zeigt die Klägerin nicht auf, dass selbst bei einer unterstellten Infektionswahrscheinlichkeit des ungeborenen Kindes von 45 Prozent mit den daraus abgeleiteten geringeren Wahrscheinlichkeiten eines Aborts oder einer wertungsmäßig vergleichbaren Schädigung eine hohe bzw große Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts vorgelegen hätte.

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6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.