Hessisches Landessozialgericht L 14 Kr 203/93

Hessisches Landessozialgericht

Urteil vom 23.03.1995 (nicht rechtskräftig)

  • Sozialgericht Frankfurt S 25 Kr 3872/90
  • Hessisches Landessozialgericht L 14 Kr 203/93
  • Bundessozialgericht B 3 RK 22/95

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Dezember 1992 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin ein Gebührenanspruch nach der Hebammenhilfe-Gebührenverordnung (HebGV) zusteht.

Die Klägerin und die Beigeladene zu 2) sind freiberufliche Hebammen und haben einen Belegvertrag mit dem Kreiskrankenhaus in S. Für dort stattfindende Entbindungen leisten sie abwechselnd Rufbereitschaftsdienst. Sie haben dafür einen Einsatzplan erarbeitet, nach welchem sie sich jeweils für einen Zeitraum von 24, 48 oder 72 Stunden zu Hause rufbereit halten. In diesem Zeitraum übernehmen sie die Betreuung der Gebärenden, nach Ablauf des Zeitraums übernimmt die jeweils andere Hebamme die Betreuung. Die Hebammenleistungen im Kreiskrankenhaus S. werden ausschließlich von freiberuflichen Hebammen erbracht und im Rahmen der HebGV mit dem jeweiligen Kostenträger abgerechnet.

Am 13. Juli 1990 wurde die bei der Beklagten familienversicherte Beigeladene zu 1) wegen beginnender Geburtswehen in das Kreiskrankenhaus S. aufgenommen. In der Zeit von 0.40 Uhr bis 1.20 Uhr und 3.15 Uhr bis 4.00 Uhr leistete die Klägerin Hilfe bei Schwangerschaftsbeschwerden (Kontrolle der kindlichen Herztöne mittels eines Cardiographen, Vaginaluntersuchung) im Rahmen ihres Bereitschaftsdienstes. Um 8.00 Uhr endete ihr Bereitschaftsdienst. Daraufhin übernahm die Beigeladene zu 2) die Betreuung der Versicherten und half bei der um 10.26 Uhr erfolgenden Geburt.

Die Beigeladene zu 2) rechnete für die von ihr geleistete Geburtshilfe die Pauschalgebühr nach Ziffer 9 des Gebührenverzeichnisses zur HebGV mit der Beklagten ab. Mit Schreiben vom 27. August 1990 stellte die Klägerin der Beklagten für die von ihr erbrachten Leistungen Gebühren, Auslagen und Wegegeld gemäß Ziff. 5 des Gebührenverzeichnisses zur HebGV in Höhe von 86,60 DM in Rechnung. Die Beklagte lehnte die Bezahlung mit der Begründung ab, grundsätzlich bestehe nur der einmalige Anspruch auf Abrechnung der Positionsziffern. Die Regelung in der Legende zu Ziff. 9 bis 11 des Gebührenverzeichnisses zur HebGV schließe jedoch weitere Gebührenansprüche aus, wenn die Hilfeleistung in einem Zeitraum von zehn Stunden vor der Geburt bis zu drei Stunden nach der Geburt erfolge. Dies gelte auch dann, wenn zur Leistungserbringung mehrere Hebammen notwendig seien. Im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung werde die Auffassung vertreten, daß mehrere Hebammen den finanziellen Ausgleich untereinander zu regeln hätten.

Am 14. Dezember 1990 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben. Sie hat die Ansicht vertreten, mit der Pauschalgebühr für die Entbindung seien nur die in den letzten zehn Stunden vor der Entbindung erbrachten Leistungen der Entbindungshebamme abgegolten, nicht jedoch Leistungen anderer Hebammen, wenn das Tätigwerden nicht in den Organisationsbereich der beiden Hebammen falle. Die Beklagte hat die Ansicht geäußert, Ziff. 9 des Gebührenverzeichnisses und die in der Leistungslegende enthaltene Regelung sei auch für den hier vorliegenden Fall anzuwenden. Hilfeleistungen anderer Hebammen seien daneben nicht gesondert abrechenbar. Dies widerspreche allen vertragsrechtlichen Normen von Treu und Glauben und würde dem Abgeltungsgedanken einer Pauschalregelung entgegenstehen.

Nachdem das Sozialgericht die damals noch nicht Beigeladene zu 2) als Zeugin gehört hat, hat es mit Urteil vom 7. Dezember 1992 die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, daß für die Streitigkeiten zwischen Hebammen und gesetzlichen Krankenkassen der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gemäß § 51 Sozialgerichtsgesetz (SGG) offenstehe, denn nach einhelliger Rechtsauffassung seien diese Rechtsbeziehungen öffentlich-rechtlicher Natur. Auch sei die Klage zulässigerweise ohne Durchführung eines Vorverfahrens erhoben worden, denn zwischen Krankenkassen und Hebammen bestehe kein Über-Unterordnungsverhältnis, welches die Krankenkassen zum Erlaß von Verwaltungsakten ermächtigen würde. Die Klage sei jedoch unbegründet. Grundsätzlich habe eine Hebamme zwar nach § 2 HebGV i.V.m. Nr. 5 des Gebührenverzeichnisses einen Anspruch auf den geltend gemachten Betrag, wenn sie während der Nacht Hilfe bei Schwangerschaftsbeschwerden oder Wehen leiste. Dieser Anspruch sei jedoch nach der Legende zu den Nrn. 9–11 des Gebührenverzeichnisses dann ausgeschlossen, wenn die Hilfeleistung innerhalb von 10 Stunden vor und 3 Stunden nach der Geburt erfolge. Diese Regelung gelte beim Tätigwerden von zwei Hebammen zumindest dann, wenn dies in deren Organisationsbereich falle. So liege es hier, denn die Klägerin und die Beigeladene zu 2) hätten sich auf einen Rufbereitschaftsdienst geeinigt, bei dem ein Schichtwechsel zu festgelegten Uhrzeiten stattfinde. Die Berufung hat das Sozialgericht zugelassen.

Gegen das am 25. Februar 1993 zugestellte Urteil richtet sich die am 8. März 1993 beim Hessischen Landessozialgericht eingelegte Berufung der Klägerin. Mit Beschluss vom 22. Juli 1993 hat der Senat die Versicherte L. I. und die Hebamme L. R. gemäß §§ 75 Abs. 2, 106 Abs. 3 Nr. 6 SGG zum Rechtsstreit beigeladen.

Die Klägerin trägt vor, durch die Vernehmung der Beigeladenen zu 2) stehe der Sachverhalt jetzt unstreitig fest. Sie ist der Ansicht, daß sie auch bei der vorliegenden Fallkonstellation einen Anspruch auf die geltend gemachte Vergütung habe. Sie und die Beigeladene zu 2) seien jeweils einzeln als Hebammen tätig. Aus diesem Grund sei es verfehlt, den Hebammenwechsel innerhalb von 10 Stunden vor der Geburt dem Organisationsbereich der Hebammen zuzurechnen. Im übrigen übersehe das erstinstanzliche Gericht bei seiner Argumentation, daß die Hebamme, soweit sie allein 24 Stunden hintereinander tätig werde, zumindest grob fahrlässig handeln würde, wenn sie die erforderlichen Leistungen der nächsten Stunden nicht der Erbringung durch eine andere Hebamme überlassen würde. Auch stehe dem Anspruch nicht die gesetzliche Regelung entgegen, denn die Regelungen der §§ 3–5 HebGV bezeichneten “die Hebamme” als Subjekt. Dies sei dahingehend auszulegen, daß hiermit jede einzelne Hebamme gemeint sei.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Dezember 1992 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an sie wegen der Behandlung der Beigeladenen zu 1) am 13. Juli 1990 86,60 DM nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung trägt sie vor, Nr. 9 des Gebührenverzeichnisses zur HebGV sei eine abschließende Regelung. Es komme nicht darauf an, aus welchem Grund zwei Hebammen tätig geworden wären. Diese Rechtsauffassung würden auch der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung und der AOK-Bundesverband teilen.

Die Beigeladenen, die im Termin zur mündlichen Verhandlung weder erschienen noch vertreten waren, haben weder Anträge gestellt noch sich im Berufungsverfahren geäußert.

Wegen des Sach- und Streitstandes im übrigen wird auf die Klage- und Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Über die Berufung konnte der Senat trotz des Nichterscheinens der Beigeladenen zu 1) und 2) aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden, weil auf diese Möglichkeit in der schriftlichen Terminsladung hingewiesen worden ist (§§ 124 Abs. 1, 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie insbesondere statthaft, weil sie vom Sozialgericht zugelassen worden ist (§§ 151, 143, 144 SGG). Für den Rechtsstreit ist auch der von der Klägerin eingeschlagene Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet, denn nach § 51 Abs. 1 SGG entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten u.a. der Sozialversicherung. Um einen solchen Rechtsstreit handelt es sich im vorliegenden Fall. Nach einhelliger Rechtsauffassung sind die Rechtsbeziehungen der Hebammen und der gesetzlichen Krankenkassen öffentlich-rechtlicher Natur (BSG in SozR Nr. 1 zu § 1 HebGV; BSGE 60, 54 ff.; BGHZ 36, 91 ff.).

Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main die Klage abgewiesen, denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf die geltend gemachten Beträge.

Der Klageanspruch ist nicht nach § 2 HebGV i.V.m. Nr. 5 des Gebührenverzeichnisses zur HebGV, §§ 195, 196 Reichsversicherungsordnung (RVO) und § 134 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) begründet. Gemäß §§ 195, 196 RVO, die weiterhin gelten, haben Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung bei Schwangerschaft und Mutterschaft grundsätzlich Anspruch auf Hebammenhilfe. § 134 Abs. 1 Satz 1 SGB V ermächtigt den Bundesminister für Gesundheit mit Zustimmung durch den Bundesrat die Vergütungen für die freiberuflich tätigen Hebammen durch Rechtsverordnung zu regeln. Von dieser Verordnungsermächtigung hat der Bundesminister für Gesundheit durch Erlaß der Hebammengebührenverordnung (HebGV) zulässigerweise Gebrauch gemacht. Hebammen sind gemäß § 134 Abs. 1 Satz 3 SGB V nicht berechtigt, weitergehende Ansprüche an die Versicherte zu stellen.

§ 2 Abs. 1 HebGV bestimmt, daß die Krankenkassen Vergütungen nach Maßgabe der Bestimmungen dieser Verordnung für die im anliegenden Gebührenverzeichnis genannten Leistungen zahlen. Daraus und aus § 134 Abs. 1 Satz 3 SGB V ist zu schließen, daß das Gebührenverzeichnis eine abschließende Aufzählung der vergütungsfähigen Leistungen beinhaltet. Dem von der Klägerin geltend gemachten Anspruch nach Nr. 5 dieses Gebührenverzeichnisses steht jedoch die in der Legende zu Nrn. 9–11 getroffene Regelung entgegen. Danach umfassen diese Gebühren die Hilfen für die Dauer bis zu zehn Stunden vor und drei Stunden nach der Geburt. Dabei handelt es sich um eine typische Pauschalgebührenregelung, die auch zur Anwendung kommt, wenn mehrere Hebammen im genannten Zeitraum tätig geworden sind. Die Klägerin verkennt bei ihrer Argumentation, daß die genannte Regelung nicht auf “die Hebamme” abstellt, sondern auf “die Hilfe”. Daraus wird deutlich, daß der Verordnungsgeber hiermit pauschal alle Leistungen in einem Zeitraum von 10 Stunden vor bis zu 3 Stunden nach der Geburt abdecken wollte und es nicht darauf ankommt, ob gegebenenfalls verschiedene Hebammen tätig geworden sind.

Aufgrund des vorliegenden Streitfalls sieht der Senat auch keine Veranlassung zu einer erweiternden Auslegung des Gebührenverzeichnisses. Eine erweiternde, berichtigende Auslegung ist nur dann geboten, wenn sich aus dem im Gesetz erkennbar gewordenen Sinn und Zweck einer Regelung ergibt, daß der Gedanke des Gesetzes einen zu engen oder zu weiten und deshalb unrichtigen Ausdruck gefunden hat (BSGE 14, 238, 239; 21, 280; 24, 351 ff). Davon kann hier aber keine Rede sein. Zum einen lag der Wechsel in der Organisationsgewalt der Hebammen, denn er wurde in Anwendung des von diesen verabredeten Bereitschaftsdienstes durchgeführt, Insoweit muß sich die Klägerin auch entgegenhalten lassen, daß sie ursprünglich über ihren Prozeßbevollmächtigten die Ansicht vertreten hat, daß in diesem Fall kein Gebührenanspruch einer zweiten Hebamme entsteht.

Zum anderen bietet auch die Art der konkret erbrachten Leistungen für den Senat keinen Anlaß zu einer anderen Beurteilung. Die Klägerin hat nämlich im Zeitraum von 0.40–4.00 Uhr bei der Beigeladenen zu 1) eine Vaginaluntersuchung vorgenommen und die kindlichen Herztöne mittels eines Cardiographen kontrolliert. Dies sind jedoch gerade typische Leistungen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit einer Niederkunft vorgenommen werden. Gerade auf diese Leistungen findet der in der Legende zu Nrn. 9–11 des Gebührenverzeichnisses enthaltene Pauschalierungsgedanke Anwendung.

Zur Vermeidung von Wiederholungen wird im übrigen auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug genommen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen, da zu dieser Rechtsfrage – soweit ersichtlich – bisher keine Entscheidung des BSG ergangen ist und die Streitfrage nach Ansicht des Senats grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).