Landessozialgericht Hamburg L 1 KR 95/04

Landessozialgericht Hamburg

Urteil vom 15.12.2004 (nicht rechtskräftig)

Sozialgericht Hamburg S 28 KR 440/03
Landessozialgericht Hamburg L 1 KR 95/04

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 17. Mai 2004 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Erstattung der Kosten für die in der Zeit vom 19. August 2002 bis 18. Februar 2003 durchgeführte Arzneimitteltherapie mit dem in Deutschland nicht zugelassenen Medikament Tomudex (Handelsname: Ralitrexed) in Höhe von 8.320,59 Euro streitig.

Bei der am XX.XXXXX 1947 geborenen Klägerin wurde nach einer Darmkrebsoperation im Juli 2002 zuerst das Mittel “5FU” (Fluoruracil) zur Chemotherapie angewendet. Dieses Mittel musste jedoch abgesetzt werden, nachdem koronarspastische Nebenwirkungen aufgetreten waren (Entlassungsbericht des Klinikums N. vom 16.8.02). Daraufhin beantragte der Internist/Onkologe Dr. H. bei der Beklagten im August 2002 die Fortsetzung der adjuvanten Chemotherapie der Klägerin mit dem Medikament Tomudex. Es gebe hierzu keine Behandlungsalternative.

Die Klägerin wurde ab 19. August 2002 bis zum 24. Februar 2003 mit acht Einheiten des Medikaments Tomudex behandelt (Gesamtkosten 8.320,59 Euro).

Der von der Beklagten eingeschaltete Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) vertrat die Auffassung, dass eine Bewilligung nicht in Betracht komme, weil die Kriterien des sog. “Off-Label-Use” nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht erfüllt seien (Gutachten der Sozialmedizinerin G. vom 26.8.02). Das Mittel sei in Deutschland nicht zur Krebstherapie zugelassen. Zwar handele es sich bei der Krebserkrankung der Klägerin um eine nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung und es sei wegen der Unverträglichkeit von 5FU auch keine andere Therapie verfügbar. Jedoch fehle eine verlässliche Datenlage, um von einer begründeten Aussicht auf einen Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) ausgehen zu können. Das folge bereits aus der von der Herstellungsfirma selbst geschilderten Studienlage. Aufgrund erheblicher Nebenwirkungen von Tomudex sei eine Überlegenheit gegenüber 5FU nicht zu erkennen. Auch sei einen geringere kardiale Toxität von Tomudex nicht erwiesen, sondern es gebe nur Einzelfallberichte, wonach eine sich unter 5FU entwickelte Angina beim Umsetzen auf Tomudex nicht mehr gezeigt habe. Der MDK hatte dabei u.a. die Ausführungen der Herstellungsfirma A.Z. im Schreiben vom 15. August 2002 ausgewertet, die dort weiter darlegte, die Studien seien von ihrer Seite abgebrochen worden, nachdem die Zahl der behandlungsbedingten Todesfälle bei Tomudex (17 Fälle) höher gelegen hätten als bei 5FU (7 Fälle) und abschließend mitteilte, dass bezüglich eines möglichen adjuvanten Einsatzes, der sehr selten nachgefragt werde, keine Wirksamkeitsdaten vorlägen. Das Mittel sei in Deutschland nicht zugelassen, verfüge aber über eine Zulassung in mehreren westlichen Ländern.

Mit Bescheid vom 10. September 2002 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme ab und wies den dagegen gerichteten Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2003 zurück.

Mit Urteil vom 17. Mai 2004 hat das Sozialgericht die dagegen gerichtete Klage abgewiesen. Abgesehen davon, dass die Kosten der am 4. September 2003 durchgeführten Behandlung möglicherweise schon deswegen nicht erstattungsfähig seien, weil die Klägerin eine Entscheidung der Beklagten nicht abgewartet habe, scheide die Kostenerstattung für die weitere Behandlung aus, da die Beklagte das nicht zugelassene Medikament auch nicht als Sachleistung schulde. Das Mittel sei zulassungsbedürftig und es reiche nicht, dass eine Verordnung unter bestimmten Umständen nicht strafbewehrt sei, um den Anforderungen an den Qualitätsstandard der Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung zu genügen. Ein Systemversagen liege nicht vor und mangels Zulassung komme auch eine Verordnung im Rahmen eines Off-Label-Use nicht in Betracht.

Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin Berufung eingelegt. Sie vertritt die Auffassung, auch die Kosten für das nicht auf dem deutschen Markt zugelassene Arzneimittel Tomudex seien von der Beklagten zu erstatten, weil die fehlende Zulassung auf einem Systemversagen beruhe und deswegen das Mittel unter den Kriterien der BSG-Rechtsprechung für den sog. Off-Label-Use zugänglich sein müsse, die vorliegend erfüllt seien.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 17. Mai 2004 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. September 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr die Kosten für die Inanspruchnahme des Arzneimittels Tomudex in Höhe von 8.320,59 Euro zu erstatten, hilfsweise die Revision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, das Sozialgericht habe die Klage zu Recht abgewiesen.

Wegen des Sachverhalts im Einzelnen wird auf die in der Sitzungsniederschrift vom 15. Dezember 2004 aufgeführten Akten und Unterlagen verwiesen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin (vgl. §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) ist nicht begründet.

Wenn ein zulassungspflichtiges Medikament – wie hier – in Deutschland nicht zugelassen ist, besteht kein Anspruch auf die Versorgung mit diesem Mittel im Rahmen des Sachleistungsanspruchs (§§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 31 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V)), es darf dann auch nicht im Rahmen des sog. Off-Label-Use verordnet werden. Eine Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 3 SGB V scheidet aus. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht daher die auf Kostenerstattung gerichtete Klage abgewiesen.

Gemäß §§ 27 Abs. 1 Nr. 3, 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V hat die Klägerin Anspruch auf Versorgung mit den für eine Krankenbehandlung erforderlichen Arzneimitteln unter den Einschränkungen der §§ 2 Abs. 1 Satz 3, 12 Abs. 1 SGB V. Die Arzneimitteltherapie muss sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als zweckmäßig und wirtschaftlich erwiesen haben und dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Voraussetzung hierfür ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG 19.3.02 – B 1 KR 37/00 R, BSGE 89, 184), dass ein zulassungsbedürftiges Medikament zum Zeitpunkt der Behandlung nach den arzneimittelrechtlichen Vorschriften zugelassen ist. Als Fertigarzneimittel bedarf Tomudex gemäß § 4 Abs. 1 Arzneimittelgesetz (AMG) der Zulassung. Diese Zulassung liegt mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland weder für die hier streitige noch für eine andere Indikation vor; auch nicht nach europarechtlichen Vorschriften. Zwar lässt § 73 Abs. 3 AMG in begründeten Einzelfällen unter bestimmten Voraussetzungen die (privatärztliche) Verordnung nicht zugelassener Medikamente zu, jedoch – weil Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Arzneimitteltherapie fehlen – nach ständiger Rechtsprechung nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. BSG 18.5.2004 – B 1 KR 21/02 R, zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).

Etwas anderes folgt auch nicht aus der Rechtsprechung des BSG zur zulassungsüberschreitenden Anwendung von Arzneimitteln (sog. Off-Label-Use, vgl. BSG 19.3.02 – B 1 KR 37/00 R, BSGE 89, 184). Ein Arzneimittel, dem die Zulassung in Deutschland fehlt, ist nicht so zu behandeln wie ein im Inland bereits zulässigerweise im Handel befindliches Medikament, das außerhalb seines Zulassungsrahmens verordnet und verwendet werden soll. Seine Anwendung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ist ausgeschlossen, denn es liegt der mit der arzneimittelrechtlichen Zulassung verbundene Nachweis von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Medikaments nicht vor. Das gilt auch dann, wenn der Arzneimittelhersteller kein Interesse an Beantragung oder Erweiterung einer Zulassung hat (BSG 18.5.04, aaO). Ausnahmen hierzu sind von der Rechtsprechung bisher nicht entwickelt worden.

Aber selbst die Anwendung der Rechtsprechung zum Off-Label-Use auf eine Arzneimitteltherapie mit einem Medikament ohne Zulassung im Inland würde im Falle der Klägerin zu keinem günstigeren Ergebnis führen. Es liegt keine der von der Rechtsprechung entwickelten besonderen Konstellationen vor, in denen aus Gründen eines Systemversagens der gesetzlichen Krankenversicherung die Versorgung mit einem nicht (für die Indikation) zugelassenen Arzneimittel in Betracht kommt.

Es handelt sich weder um einen besonderen Versorgungsbereich (wie z. B. Kinderonkologie) noch um eine Erkrankung, die schon aufgrund ihrer Seltenheit einer systematischen Erforschung nicht zugänglich erscheint, bei der also nur eine individuelle Behandlung im Einzelfall in Betracht kommt und deswegen nur auf nicht zugelassene Mittel zurückgegriffen werden kann (vgl. BSG 19.10.04, bisher nur Pressemitteilung). Dafür gibt es hier keine Anhaltspunkte. Zwar kommt die bei der Klägerin bestehende Unverträglichkeit nicht häufig vor, die Grunderkrankung ist aber erforscht und wird systematisch behandelt. Die nach Auskunft der Herstellerfirma stattgefundenen Studien zeigen, dass es ausreichende Fallzahlen für die Durchführung eines Zulassungsverfahrens geben muss.

Zwar geht es um die Behandlung einer Karzinomerkrankung, also einer ernsten, lebensbedrohenden Krankheit, hier jedoch um einen Teilbereich der Behandlung, nämlich die medikamentöse Chemotherapie nach Entfernung des Karzinoms, für die ein zugelassenes Mittel (5FU) zur Verfügung steht, welches im Falle der Klägerin allerdings wegen erheblicher Nebenwirkungen abgesetzt werden musste. Im konkreten Fall zeigte Tomudex bei der Klägerin keine Nebenwirkungen. Es fehlen jedoch gesicherte Erkenntnisse darüber, ob Tomudex generell weniger Nebenwirkungen oder zumindest weniger koronarspastische/kardiale Nebenwirkungen als 5FU hervorruft. Hinsichtlich des Medikaments Tomudex fanden Studien statt, die jedoch nicht zuletzt wegen aufgetretener Todesfälle abgebrochen wurden. Die bisherige Datenlage reicht nach den überzeugenden Ausführungen der Sozialmedizinerin G. nicht, um die Wirksamkeit und vor allem auch die Unbedenklichkeit zu bejahen. Dass bei der Klägerin keine Nebenwirkungen eingetreten sind, reicht nicht aus, um die Unbedenklichkeit des Arzneimittels darzutun.

Der Senat setzt sich mit seiner Entscheidung nicht in Widerspruch zum Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 2004 (1 BvR 131/04, NJW 2004, 3100), wonach bei einstweiligen Anordnungen die Anforderungen an das Vorliegen eines Systemversagens nicht überspannt werden dürften, wenn bei Nichteinnahme des beantragten Arzneimittels eine lebensbedrohende Situation oder irreversible gesundheitliche Folgen eintreten könnten. Diese Entscheidung ist auf den Fall der Klägerin schon deswegen nicht übertragbar, weil hier lediglich die Kostenerstattung für die bereits erfolgte Therapie streitbefangen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Der Senat hat die Revision zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG vorliegen.