Sozialgericht Aachen S 13 KR 35/98

 

Sozialgericht Aachen

Urteil vom 01.06.1999 (rechtskräftig)

Sozialgericht Aachen S 13 KR 35/98
 
 

Der Bescheid vom 27. Oktober 1997 und der Widerspruchsbescheid vom 14. Juli 1998 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten der Behandlung der Multiplen Sklerose der Klägerin mit intravenösen Immunglobulinen (Gammaglobulinen) für ein Jahr zu übernehmen. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Übernahme der Kosten der Behandlung einer chronisch-progredienten Multiplen Sklerose (MS) mit intravenösen Immunglobulinen (IVIG).

Die 0000 geborene Klägerin ist verheiratet und hat eine Tochter. Bis 1991 war sie als Lehrerin tätig. Sie leidet seit 1980 an einer chronisch-progredienten MS (Encephalo-myelitis disseminata). Sie wurde wiederholt in der Neurologischen Klinik der RWTH B mit hochdosierten Cortisongaben behandelt; im Juni/Juli 1997 erfolgte in der Neurologischen Klinik der Ruhr-Universität (Direktor: Q) eine intrathekale Gabe von Volon A. Im August 1997 beantragte die Klägerin die Übernahme der Kosten einer Therapie der MS mit Gammaglobulinen. Sie legte ein Attest ihres Neurologen und Psychiaters E vor, in dem dieser die Therapie als einzige Möglichkeit bezeichnete, der Klägerin bei ihrer fortschreitenden Krankheit zu helfen, und die Behandlung der MS mit Gammaglobulinen auch aus ethischen Gründen befürwortete. In einer Stellungnahme vom 10. September 1997 erklärte Q, der die medikamentöse Therapie durchführen sollte, dass es für den Verlauf der bei der Klägerin vorliegenden Krankheitsform bisher keine anerkannte Therapie gebe und die in solchen Fällen oft mit guten Ergebnissen angesetzte intrathekale Therapie mit Depotkortikoidsteroiden bei der Klägerin zu keinem Stillstand der Erkrankung geführt habe. Er halte deshalb einen Heilversuch mit intravenösen Immunglobulinen für indiziert. Q fügte seiner Stellungnahme eine von ihm miterstellte Übersicht über die kausale Therapie der MS bei, in der auch die IVIG-Therapie dargestellt wird. Nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) M lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 27. Oktober 1997 die Kostenübernahme ab mit der Begründung, Immunglobuline würden nur im Rahmen klinischer Studien befürwortet; Kosten für die medizinische Forschung könnten nicht zu Lasten der Krankenkasse gehen. Dagegen legte die Klägerin am 24. November 1997 Widerspruch ein unter Vorlage einer aktuellen Bescheinigung von E. Dieser teilte mit, dass die einzige Therapie, die bei der chronisch-progredienten Verlaufsform der MS nach heutigem wissenschaftlichen Stand einen Therapieerfolg versprechen könnte, eine Behandlung mit Gammaglobulinen sei. Auch wenn Studien zu dieser Fragestellung noch nicht abgeschlossen seien, seien sie das einzige Medikament, bei dem eine Remyelinisierung möglich sei. In einer Stellungnahme an den MDK M begründete Q, warum er aus medizinischer Sicht im konkreten Fall der Klägerin eine Behandlung mit IVIG für sinnvoll hielt. Er empfahl eine Behandlung in Form eines Heilversuches für zunächst ein Jahr unter Verwendung des Arzneimittels Sando-globulin; die Kosten für 10 Gramm dieses Medikamentes beliefen sich zur Zeit auf etwa 1.500,- DM, die Gesamtkosten der Behandlung der Klägerin auf etwa 27.000,- DM in einem Jahr. Q wies ausdrücklich darauf hin, dass die Applikation von IVIG nicht im Rahmen einer Studie erfolge. In einer ergänzenden MDK-Stellungnahme vom 03. April 1998 sprach sich U erneut gegen eine Kostenübernahme aus: In den Studien und Berichten über die IVIG-Therapie hätten sich zwar positive Ergebnisse bei der schubförmigen MS gezeigt; diese ließen sich jedoch nicht auf die Behandlung von Patienten mit chronisch-progredientem Verlauf übertragen. Es sei von einer experimentellen Situation auszugehen und eine Verordnung zu Lasten der Kasse nicht zu vertreten. Gestützt hierauf lehnte die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 14. Juli 1998 zurück. Sie verwies dabei auf die Ziffern 12 und 13 der Arzneimittel-Richtlinien; danach setze die Wirtschaftlichkeit einer Verordnung voraus, dass das verordnete Arzneimittel in seiner handelsüblichen Zubereitung hinsichtlich seines therapeutischen Nutzens ausreichend gesichert sei. Erprobungen von Arzneimitteln auf Kosten des Versicherungsträgers seien unzulässig; dies gelte auch für Erprobungen nach der Zulassung des Arzneimittels. MS stelle keine wissenschaftlich anerkannte Indikation für das empfohlene Präparat dar. Infolge dessen könnten Gammaglobuline zur Behandlung der MS weder zu Lasten der Kasse verordnet werden noch bestehe ein Anspruch auf Kostenerstattung. Dagegen hat die Klägerin am 00. 0000. 0000 Klage erhoben. Sie verwies darauf, dass Gammaglobuline u. a. als Fertigarzneimittel “Sandoglobulin” zugelassen seien, wenn auch nicht für das Anwendungsgebiet der chronisch-progredienten MS. Die in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Versicherten hätten Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln nach den allgemein anerkannten Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschrittes. Der einzelne Arzt dürfe, u. U. müsse er sogar ein Arzneimittel in einem nicht zugelassenen Anwendungsgebiet einsetzen. Die Klägerin hat den Entwurf der neuen Arzneimittel-Richtlinien in der Fassung des Beschlusses des Bundesausschusses Ärzte und Krankenkassen vom 08. Januar 1999 und der Änderungsmaßgabe des Bundesministeriums für Gesundheit vom 11. März 1999 vorgelegt und darauf hingewiesen, dass nach Ziffer 4.1 dieses Richtlinien-Entwurfes zwar die Verordnung von nicht zugelassenen oder nicht registrierten Arzneimitteln und von zugelassenen Arzneimitteln in nicht zugelassenen Indikationen unzulässig ist und dies auch für die Erprobung von Arzneimitteln gelte. Jedoch sei die Verordnung von Mitteln, die außerhalb zugelassener Indikationen angewendet werden sollen, auf der Basis wissenschaftlichen Erkenntnismaterials als Heilversuch im Einzelfall mit Zustimmung der zuständigen Krankenkasse zulässig. Ein Heilversuch – so die Klägerin – liege nach der einhelligen medizinischen Terminologie vor, wenn eine neue Therapie noch nicht allgemein anerkannt sei, die Schwere der Erkrankung jedoch einen Therapieversuch angezeigt erscheinen lasse. Diese Voraussetzungen seien bei ihr erfüllt.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27. Oktober 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. Juli 1998 zu verurteilen, die Kosten einer Behandlung ihrer Multiplen Sklerose mit intravenösen Immunglobulinen (Gamme-Globulinen) für ein Jahr zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie meint, dass nur zugelassene Arzneimittel in Bezug auf zugelassene Indikationen verordnet werden dürften. Q habe in seiner Stellungnahme vom 05. Februar 1998 erklärt, dass für die bei der Klägerin beabsichtigte Therapie keine eindeutigen Ergebnisse aus vorausgegangenen Studien vorlägen. Im übrigen seien die neuen Arzneimittel-Richtlinien bisher nicht in Kraft getreten. Das Gericht hat zur IVIG-Therapie Auskünfte eingeholt vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (Arbeitsausschüsse “Ärztliche Behandlung” und “Arzneimittel”), von der Arzneimittelkommission der deutschen Apotheker, vom Paul-Ehrlich-Institut und vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Wegen des Ergebnisses wird auf die Stellungnahmen vom 14. September, 16. Oktober, 16. November, 25. November und 04. Dezember 1998 sowie die von den Stellen überreichten Berichte über IVIG-Studien verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Behandlung ihrer chronisch-progredienten MS mit intravenösen Immunglobulinen (Gamma-Globulinen) im Rahmen eines individuellen Heilversuches zunächst für ein Jahr. Dieser Anspruch ergibt sich aus § 27 Abs. l Satz l Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst u. a. die ärztliche Behandlung sowie die Versorgung mit Arzneimitteln (Satz 2 Nrn. 1 und 3). Die Klägerin leidet an MS. Die Ätiologie dieser Krankheit ist unklar, es handelt sich wahrscheinlich um eine Autoimmunkrankheit gegen Markscheidenantigene (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 258. Aufl., 1998, S. 1046). Bei mindestens 80 v. H. der Patienten verläuft die MS schubförmig, bei weniger als 20 v. H. der Patienten schreitet die Behinderung von Anfang an ohne Schübe und Verbesserungen – chronisch-progredient – fort (vgl. Pöhlau u. a., Kausale Therapie der Multiplen Sklerose, Deutsch.mediz. Wochenschrift – DMW – 1996, 1407). Die Therapie der MS erfolgt zumeist mit Cortison, das zum Teil niedrig dosiert, zum Teil aber auch hoch dosiert als Stoßtherapie intravenös oder intra- thekal verabreicht wird. Seit 1995 ist Interferon Beta-1b als erste Substanz zur Behandlung der schubförmigen MS in Deutschland zugelassen (Pöhlau, a. a. 0.). Nicht jeder MS-Kranke spricht auf die jeweilige Therapie an, es gibt sogenannte Responder und Non-Responder. Bei der Klägerin kommt hinzu, dass sie an der seltenen chronisch- progredienten Verlaufsform der MS leidet. Die Cortisonbehandlungen – zuletzt durch Q mit Volon A -haben zwar zeitweilig eine Besserung gebracht; letztlich haben jedoch alle vorausgegangenen Therapieversuche – wie Q in seiner ausführlichen Stellungnahme vom 05. Februar 1998 dargelegt hat – keine wesentliche Stabilisierung der Erkrankung oder Besserung erbringen können. Die Klägerin ist daher mit den herkömmlichen Methoden austherapiert. In dieser Situation ist es nach Auffassung der Kammer nicht nur indiziert, sondern im Sinne des Krankenversicherungsrechts auch notwendig, die Klägerin mit einem bisher nicht angewandten Arzneimittel zu behandeln, wenn anders ihre Krankheit nicht geheilt, ihre Verschlimmerung verhütet oder Krankheitsbeschwerden gelindert werden können. Allerdings steht jede Leistung der GKV unter dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. l SGB V. Danach müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen (§ 2 Abs. l Satz 3 SGB V). Nach § 92 Abs. l beschließen die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten. Sie sollen u. a. insbesondere Richtlinien beschließen über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (Nr. 5) und die Verordnung von Arzneimitteln (Nr. 6). Neue Untersuchungs- und Behandlungsniethoden dürfen in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der zuständige Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen auf Antrag einer kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer kassenärztlichen Vereinigung oder eines Spitzenverbandes der Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. l Satz 2 Nr. 5 Empfehlungen abgegeben haben über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit – auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachten Methoden -nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung (§ 135 Abs. l Satz l Nr. l SGB V). Die Vorschriften des § 135 Abs. l Satz l i. V. m. § 92 Abs. l Satz 2 Nr. 5 SGB V sind für die hier streitbefangene Behandlung der MS mit Immunglobulinen, konkret durch das Medikament “Sandoglobulin” nicht einschlägig. Der insofern zuständige Arbeitsausschuss “Ärztliche Behandlung” (früher: “Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden” – NUB) des Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen hat unter dem 14. September 1998 mitgeteilt, die Frage der Zulässigkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Anwendung eines Arzneimittels (Immunglobuline) zur Behandlung der MS falle in die Zuständigkeit des Arbeitsausschusses “Arzneimittelrichtlinien”. Dieser hat sodann unter dem 16. Oktober 1998 mitgeteilt, bisher nicht mit der IVIG-Therapie zur Behandlung der MS befasst worden zu sein. Eine Beurteilungsgrundlage zur Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit dieser Therapie liefern jedoch die vom Bundesausschuss beschlossenen Arzneimittelrichtlinien (AMR). Es gelten derzeit noch die AMR vom 31. August 1993. Diese Richtlinien regeln für die Verordnung von Arzneimitteln durch die an der vertragsärztliche Versorgung teilnehmenden Ärzte (Ziffer l Satz l AMR). Der Versicherte hat grundsätzlich einen Anspruch auf die Versorgung mit allen nach dem Arzneimittelgesetz Verkehrs fähigen Arzneimitteln, sofern sie nicht aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen sind oder soweit sie nicht nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot, wie es in diesen Richtlinien konkretisiert ist, nur eingeschränkt verordnet werden dürfen. Der Anspruch umfasst die Versorgung nach den Regeln der ärztlichen Kunst auf der Grundlage des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse im Umfange einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung (Wirtschaftlichkeitsgebot). Die Arzneimittelverordnungen müssen dem Erfordernis der Wirksamkeit und Qualität entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen (Ziffer 3 AMR). Für die Verordnung von Arzneimitteln ist der therapeutische Nutzen gewichtiger als die Kosten. Dabei ist auch die für die Erzielung des Heilerfolges maßgebliche Zeit zu berücksichtigen. Erprobungen von Arzneimitteln auf Kosten des Versicherungsträgers sind unzulässig. Dies gilt auch für die Erprobungen nach der Zulassung des Arzneimittels (Ziffer 12 AMR). Therapeutischer Nutzen setzt eine Nutzen – Risiko – Abwägung mit günstigem Ergebnis voraus; er besteht in einem nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse relevanten Ausmaß der Wirksamkeit bei der definierten Indikation. Arzneimittel mit nicht ausreichend gesichertem therapeutischem Nutzen darf der Vertragsarzt nicht verordnen (Ziffer 13 Abs. l AMR). Diesen Vorgaben wird die beantragte Behandlung der MS der Klägerin in ihrem speziellen Einzelfall unter engen Voraussetzungen gerecht. Das zu verwendende Immunglobulin-Präparat “Sandoglobulin” ist ein zugelassenes, verkehrsfähiges und damit verordnungsfähiges Fertigarzneimittel. Dabei spielt es rechtlich keine Rolle, dass Immunglobuline – auch “Sandoglobulin” nicht speziell für die Anwendung bei MS zugelassen sind (vgl. zur Zulässigkeit der Verwendung des Hustenmittels “Remedacen” zur Drogensubstitution: BSG, Urt. v. 05.07.1995 – l RK 6/95 = SozR 3-2500 § 27 Nr. 5). Das Medikament gehört auch nicht zu den gemäß § 31 Abs. l i. V. m. § 34 Abs. l SGB V und der hierzu ergangenen Verordnung ausgeschlossenen Arzneimitteln. Einer Behandlung der MS der Klägerin mit IVIG steht auch nicht entgegen, dass damit Gefahren verbunden sind. Zahlreiche Medikamente haben gravierende Nebenwirkungen, so dass infolge ihrer Anwendung neue Gesundheitsstörungen auftreten können. Ob der Einsatz JLm Interesse der Besserung des Gesundheitszustandes insgesamt dennoch gerechtfertigt ist, muss nach sorgfältiger Bewertung der Risiken und Vorteile durch den Arzt entschieden werden (BSG, a. a. 0.). Allerdings ist nicht zu verkennen, dass die IVIG-Therapie keine Standardtherapie der MS ist. Dies kommt in den Studien und Berichten über diese Therapie ebenso zum Ausdruck, wie in den Stellungnahmen des Paul-Ehrlich-Instituts, der Arzneimittelkommission der deutschen Apotheker und des BfArm und ist auch von Q und E immer wieder deutlich gemacht worden. Medizinische Forschung gehört aber nicht zu den Versicherungsleistungen der GKV (vgl. BSG, Urt. v. 16.09.1997 – l RK 28/95 unter Hinweis auf die Begründung zum Entwurf des Gesundheits-Reformgesetzes, BT-Drucksache 12/2237, S. 157). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die bei der Klägerin vorliegende Verlaufsform der MS selten ist und langjährige Untersuchungen voraussetzen würde, um genügend Patienten erfassen zu können. Hier die Klägerin auf die Teilnahme an einer wissenschaftlichen Studie zu verweisen, bei der zur Kontrolle auch nachweislich unwirksame Mittel (Placebo) eingesetzt werden müssen, wäre schon aus ethischen Gründen kaum möglich. Im Fall der Klägerin kann sich die Kasse daher zur Ablehnung der Kostenübernahme von IVIG nicht – gestützt auf entsprechende Stellungnahmen des MDK – auf den fehlenden oder mangelhaften Nachweis der Wirksamkeit dieser Therapie bei MS berufen. Denn das Gesetz (vgl. § 2 Abs. l Satz 3 SGB V) verlangt lediglich einen Standard, der dem allgemein anerkannten “entspricht” (so auch BSG, Urt. v. 16.09.1997 -l RK 28/95). Im vorliegenden Fall stellt sich die Situation wie folgt dar: – Die Klägerin leidet an einer schweren, fortschreitenden Krankheit in seltener Verlaufsform. – Die bisherigen Therapieversuche konnten keine wesentliche Stabilisierung der Erkrankung oder Besserung erbringen (Stellungnahme Q vom 05. 02.1998). – Es gibt Studien, nach denen sich eine positive Wirksamkeit von IVIG bei MS abzeichnet (vgl. Fazekas u. a., Intravenöse Inununglobuline in der Therapie der schubförmigen multiplen Sklerose, Nervenarzt 1998, S. 361 ff; Pöhlau u. a., a. a. 0.; Stellungnahme der Arzneimittelkommission der deutschen Apotheker vom 16.11. 1998; Stellungnahme Q vom 05.02. 1998). – Nach Auffassung des BfArm kann IVIG zur Behandlung der MS als Therapieoption verstanden werden für Patienten, bei denen die zugelassenen Arzneimittel keine befriedigende Wirkung zeigten und/oder auf Grund von Gegenanzeigen bzw. Nebenwirkungen auf diese verzichtet werden musste (Stellungnahme vom 04.12.1998). – Das Paul-Ehrlich-Institut – T – hat darauf hingewiesen, dass verschiedene Berichte veröffentlicht worden seien, wonach bei Patienten mit MS die klinische Symptomatik durch die Anwendung von IVIG verbessert worden sei. Es bestehe daher die Möglichkeit, dass ein Arzt aus seiner Erfahrung oder aus diesen publizierten Daten wisse, dass ein Arzneimittel, das bisher auf die Wirkung für eine bestimmte Erkrankung noch nicht in einer klinischen Studie geprüft wurde, dennoch bei dieser Erkrankung helfe, insbesondere dann, wenn Alternativen nicht mehr ausgeschöpft werden können. Auf Grund der derzeit mangelhaften Aussicht auf Heilung mit den vorhandenen Therapiemöglichkeiten bei der Indikation der MS stehe es daher auch im Ermessen und in der freien Entscheidung des Arztes, wenn er für diese Krankheit ein Arzneimittel einsetze, das in dieser Indikation nicht zugelassen sei (Stellungnahme vom 25.11.1998). Gerade von dieser Therapiemöglichkeit will Q Gebrauch machen, und er hat in seiner Stellungnahme vom 05. Februar 1998 nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, warum er im konkreten Einzelfall der Klägerin die IVIG-Therapie für sinnvoll hält. Q verfügt über eigene klinische Erfahrungen in der Anwendung der IVIG bei Patienten mit schubförmiger oder chronisch-progredienter Verlaufsform. In seiner Klinik hätten sich bei einem Großteil der von ihm behandelten Patienten eine Verzögerung der Symptomprogredienz und Funktionsverbesserungen in zumindest einigen Funktionssystemen gezeigt. Q hat sodann ausführlich dargelegt, wie er unter Berücksichtigung der eigenen Erfahrungen und der Erkenntnisse aus den vorliegenden Studien bei der Klägerin IVIG dosieren will. Die Behandlung wird also unter Leitung eines anerkannten, erfahrenen und verantwortungsvollen Facharztes erfolgen. Q hat abschließend auch darauf hingewiesen, dass er die Behandlung zunächst nur für ein Jahr durchführen und sodann eine klinische Untersuchung der Ergebnisse vornehmen will. Aus seiner Stellungnahme vom 05. Februar 1998 ergibt sich aus Sicht der Kammer eine nachvollziehbare Nutzen-Risiko-Abwägung im Sinne der Ziffer 13 der zur Zeit noch geltenden AMR zu Gunsten der IVIG-Behandlung. Sofern hier ein individueller Heilversuch stattfinden soll, ist ein solcher nicht nur auf Grund der – noch nicht in Kraft getretenen -“neuen” AMR (Ziffer 4.1), sondern auch nach geltendem Recht zulässig. Mit den in Ziffer 12 der geltenden AMR genannten “Erprobungen” sind keine individuellen Heilversuche gemeint, sondern wissenschaftliche Untersuchungen im Rahmen entsprechender Studien. Solche sollen nicht zu Lasten der GKV finanziert werden. An einer solchen würde die Klägerin jedoch, wie Q klargestellt hat, nicht teilnehmen. Der Heilversuch mit IVIG findet, wie Ziffer 4.1 der “neuen” AMR (Entwurf) dies fordert, auf der Basis wissenschaftlichen Erkenntnismaterials statt. Q hat in seiner Stellungnahme vom 05. Februar 1998 darauf ausdrücklich Bezug genommen und will die Behandlung der Klägerin daran orientieren. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Krankheit der Klägerin mit IVIG vielversprechend behandelt werden kann. Wenn der Therapieerfolg auch nicht feststeht, so ist doch angesichts der Seltenheit der Krankheit der Klägerin und dem Fehlen bzw. Scheitern anderer Behandlungsmöglichkeiten diese Therapie eine von der Kasse zu erbringende Leistung, da sie ärztlicherseits für sinnvoll und zweckmäßig gehalten wird, dem aktuellen medizinischen Erkenntnisstand entspricht und von einem erfahrenen Arzt, dem Leiter der Neurologischen Abteilung einer Universitätsklinik, verantwortlich durchgeführt wird. Dem Wirtschaftlichkeitsgebot wird zuletzt auch dadurch Rechnung getragen, dass die Behandlung auf ein Jahr begrenzt ist. Angesichts ihrer seltenen, schweren, schicksalhaften, bisher kaum therapierbaren Krankheit kann die Klägerin von der Beklagten die Behandlung mit IVIG – als Heilversuch begrenzt auf ein Jahr -beanspruchen, andernfalls ihr die Solidargemeinschaft der GKV bereits jetzt – entgegen den Vorgaben in § 27 Abs. l Satz l SGB V – jede Aussicht auf Heilung der Krankheit, Verhütung ihrer Verschlimmerung oder wenigstens Linderung der Krankheitsbeschwerden nehmen würde; die Klägerin ist wirtschaftlich außer Stande, die Kosten der Behandlung selbst zu tragen. Die Kammer weist dabei ausdrücklich darauf hin, dass es sich hier um eine Einzelfallentscheidung handelt, mit der nicht allgemein die Leistungspflicht der GKV zur Behandlung der MS mit IVIG festgestellt wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.