Sozialgericht Aachen S 2 KR 7/09
Sozialgericht Aachen
Urteil vom 11.03.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Aachen S 2 KR 7/09
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Übernahme der Kosten für das Arzneimittel Vigil® streitig.
Die am 00.00.0000 geborene Klägerin ist Mitglied der Beklagten und leidet unter Multipler Sklerose (MS) mit schubförmiger Verlaufsform sowie damit einhergehender Fatigue-Symptomatik.
Die Klägerin reichte bei der Beklagten ein Privatrezept des Neurologen und Psychiaters L. vom 00.00.0000 über 20 Tabletten Vigil® zur Kostenübernahme ein. Die Beklagte holte daraufhin ein sozialmedizinisches Gutachten nach Aktenlage durch Dr. M. vom MDK Nordrhein ein. Dieser kam zu der Einschätzung, bei Vigil® (Wirkstoff Modafinil) handele es sich um ein betäubungsmittelpflichtiges Arzneimittel, welches u.a. für die Behandlung von Narkolepsie sowie mittelschweren bis schweren obstruktiven Schlafapnoe-Syndroms und des chronischen Schichtarbeitersyndroms unter bestimmten medizinischen Voraussetzungen zugelassen sei. Eine Zulassung für die vorliegende Indikation bestehe nicht. Auch griffen die Voraussetzungen für eine Übernahmepflicht der gesetzlichen Krankenversicherung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zum “Off-label-use” nicht ein. Insbesondere lägen aktuell keine Ergebnisse einer klinischen Phase III-Studie vor, die eine Wirksamkeit von Modafinil bei der Behandlung des Fatigue-Syndroms nachwiesen.
Mit Bescheid vom 19.11.2008 lehnte die Beklagte den Antrag auf Kostenübernahme von Vigil®-Tabletten ab. Hiergegen wandte sich die Klägerin mit ihrem Widerspruch vom 01.12.2008. Zur Begründung verwies sie auf das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 24.07.2008, S 8 KR 104/07 und legte eine neuro-psychiatrische Bescheinigung des Herrn L. vor. Sie beantragte darüber hinaus, die für diese Bescheinigung entstandenen Kosten in Höhe von 20,81 EUR ebenfalls zu übernehmen.
Die Beklagte holte daraufhin ein zweites sozialmedizinisches Gutachten nach Aktenlage bei Dr. M. vom MDK Nordrhein ein, der erneut zu der Einschätzung kam, die Voraussetzungen für einen “Off-label-use” lägen nicht vor. Hinzu käme, dass es sich bei Vigil® um ein Psychostimulantium handelt, dessen Verordnung durch die aktuell gültigen Arzneimittelrichtlinien ausgeschlossen sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 04.03.2009 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer am 19.03.2009 erhobenen Klage. Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihre Vorbringen aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren. Lediglich die Medikation mit Vigil® bringe ihr Linderung bei ihren Beschwerden. Andere Medikamente oder auch Therapien brächten demgegenüber keine Besserung.
Sie beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.11.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2009 zu verurteilen, die Kosten für das Arzneimittel Vigil® zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Auch sie wiederholt und vertieft ihr bisheriges Vorbringen. Darüber hinaus hat sie eine weitere gutachterliche Stellungnahme des Dr. M. vom MDK Nordrhein vorgelegt.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten des behandelnden Neurologen und Psychiaters L. sowie des Prof. Dr. K. stellvertretender Direktor der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums E., Es hat daneben Stellungnahmen des Gemeinsamen Bundesausschusses sowie des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte eingeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.
Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide nicht gemäß § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, weil sie rechtmäßig sind. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung der von ihr verauslagten Kosten für Vigil® gegen die Beklagte.
Die Voraussetzungen des Kostenerstattungsanspruches nach § 13 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) sind nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift hat die Krankenkasse sofern sie zu Unrecht eine Leistung abgelehnt hat und dem Versicherten für die Selbstbeschaffung Kosten entstanden sind, diese Kosten zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.
Im vorliegenden Falls hat die Beklagte indes die von der Klägerin begehrte Versorgung mit Vigil® nicht zu Unrecht abgelehnt. Das begehrte Fertigarzneimittel besitzt weder die zur Behandlung von MS und des damit verbundenen Fatigue-Syndroms erforderliche Zulassung, noch kommt eine Versorgung der Klägerin nach den Grundsätzen des “Off-label-use” in Betracht. Arzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nach §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (vgl. dazu Bundessozialgericht, Urteil vom 28.02.2008, B 1 KR 15/07 R, m.w.N.). Dies ist hier der Fall. Bei dem begehrten Vigil® handelt es sich um ein Psychopharmakum, welches zur Behandlung von Narkolepsie mit und ohne Kataplexie, mittelschwerem bis schwerem Schlafapnoe-Syndrom mit exzessiver Tagesschläfrigkeit trotz adäquater CPAP-Therapie bzw. mittelschwerem bis schwerem Schichtarbeiter-Syndrom mit exzessiver Schläfrigkeit bei Patienten mit Nachtschichtwechsel, wenn andere Schlaf-hygienische Maßnahmen zu keiner zufrieden stellenden Besserung geführt haben zugelassen (Fachinformation Vigil®; Rote Liste). Die Arzneimittelzulassung erstreckt sich aber weder auf die Behandlung von MS noch auf die damit verbundene Fatigue-Symptomatik.
Eine zulassungsüberschreitenden Anwendung der von Vigil® auf Kosten der GKV (sog. “Off-label-use”) scheidet ebenfalls aus. Ein solcher “Off-label-use” kommt nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung nur dann in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat eine Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Abzustellen ist dabei auf die bereits im Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl. Bundesssozialgericht, a.a.O.).
Auch wenn es sich bei der bei der Klägerin bestehenden MS und der damit verbundenen Fatigue-Symptomatik nach Auffassung der Kammer um eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Krankheit handelt und auch andere Therapien – jedenfalls nach Aussage der Klägerin – keine Besserung gebracht haben, fehlt es jedenfalls an dem für einen “Off-label-use” auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung erforderlichen Nachweis der allgemeinen Erfolgsaussicht einer zulassungsüberschreitenden Anwendung. Zur Zeit besteht vielmehr aufgrund der vorliegenden konkreten Datenlage keine begründete Aussicht darauf, dass gerade mit dem begehrten Arzneimittel Vigil® ein allgemeiner Behandlungserfolg erzielt werden kann. Von hinreichenden Erfolgsaussichten ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgericht zum “Off-label-use” nämlich nur dann auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das (konkrete) Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (Bundessozialgericht, Urteil vom 19.03.2002, B 1 KR 37/00 R = BSGE 89, 184 [192] – restless legs). Hieran fehlt es im vorliegenden Fall. So hat Prof. Dr. K. in seinem Befundbericht deutlich gemacht, dass eine medikamentöse Therapie der Fatigue-Symptomatik sehr schwierig ist und gerade eine Verwendung von Modafinil im klinischen Alltag nur in wenigen Fällen zielführend ist. Auch Studien sehen die Erfolgsaussichten pharmakologischer Behandlungen skeptisch (vgl. Bagnall et al., The treatment and management of chronic fatigue syndrome (CFS)/ myalgic encephalomyelitis (ME) in adults and children [im Volltext abrufbar unter http://www.york.ac.uk/inst/crd/CRD Reports/crdreport35.pdf; Randall et al., Chronic treatment with modafinil may not be beneficial in patients with chronic fatigue syndrome, Journal of Psychopharmacology 2005, S. 647 ff., abstract abrufbar unter: http://jop.sagepub.com/cgi/content/abstract/19/6/647; Kraft et. al., Modafinil for fatigue in MS: A randomized placebo-controlled double-blind study, Neurology 2005, S. 1139 ff., abstract abrufbar unter http://www.neurology.org/cgi/content/abstract/64/7/1139; Henze/Haupts, Energielos, erschöpft – das Fatigue-Phänomen, NeuroTransmitter 2005, 49 ff.). Die Ergebnisse einer vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf durchgeführten Studie (Hamburger, plazebokontrollierte, randomisierte Doppelblindstudie zum Wirk-samkeitsnachweis von Modafinil bei Fatigue bei Multipler Sklerose [HAGIL]) sind bislang noch nicht veröffentlicht. Soweit Volkmer in seiner Dissertation “Erregbarkeitsver-änderungen und Funktionsverbesserung bei Multipler Sklerose und Fatigue unter Modafinil Medikation” (Hamburg 2006, im Volltext abrufbar unter http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=98343798x&dok var=d1&dok ext=pdf&filename =98343798x.pdf ) darstellt, dass positive Effekte bei der Gabe von Modafinil in Fällen von MS und Fatigue zu beobachten sind, beruht dies lediglich auf einer Untersuchung von 23 Patienten, was nach Auffassung der Kammer den strengen Anforderungen des Bundessozialgerichts im Hinblick auf den “Off-label-use” nicht genügt.
Es handelt sich bei dem Fatigue-Syndrom bei MS aber auch nicht um einen sogenannten Seltenheitsfall einer Krankheit, die weltweit nur extrem selten auftritt, die deshalb im nationalen wie im internationalen Rahmen weder systematisch erforscht noch systematisch behandelt werden kann und bei der somit für den Wirksamkeitsnachweis positive Forschungsergebnisse bzw einem bestimmten Standard entsprechende wissenschaftliche Fachveröffentlichungen nicht verlangt werden können (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 19.10.2004, B 1 KR 27/02 R = BSGE 93, 236- Visudyne). Vielmehr handelt es sich bei der Fatigue-Symptomatik leider um ein häufiges Phänomen auch bei MS (vgl. Henze/Haupts, a.a.O.).
Derzeit – und auf diese Feststellung legt die Kammer wert – sind daher die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme daher nicht gegeben.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (a.A. Sozialgericht Düsseldorf, Urteil vom 24.07.2008, S 8 KR 104/07 – nicht rechtskräftig). Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 6.12.2005 entschieden, dass es mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar ist, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende medizinische Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Diese Rechtsprechung gilt auch für die Versorgung mit Arzneimitteln. Die verfassungs-konforme Auslegung setzt jedoch u.a. voraus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 04.04.2006, B 1 KR 7/05 R = BSGE 96, 170 – Tomudex) oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt (vgl. Bundessozialgericht, Urteil 04.04.2006, B 1 KR – D-Ribose). Hieran fehlt es im vorliegenden Fall. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind nämlich insoweit an das Krankheitskriterium strengere Voraussetzungen gestellt, als sie mit dem Erfordernis einer “schwerwiegenden” Erkrankung für die Eröffnung des “Off-label-use” formuliert sind (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 14.12.2006, B 1 KR 12/06 R – Idebenone). Ohne einschränkende Auslegung ließen sich sonst fast beliebig vom Gesetzgeber bewusst gezogene Grenzen überschreiten. Entscheidend ist, dass das vom Bundesverfassungsgericht herangezogene Kriterium bei weiter Auslegung sinnentleert würde, weil nahezu jede schwere Krankheit ohne therapeutische Einwirkung irgendwann auch einmal lebensbedrohende Konsequenzen nach sich zieht. Das kann aber ersichtlich nicht ausreichen, das Leistungsrecht des SGB V und die dazu ergangenen untergesetzlichen Regelungen nicht mehr als maßgebenden rechtlichen Maßstab für die Leistungsansprüche der Versicherten anzusehen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 26.09.2006, B 1 KR 3/06 R – Neuropsychologische Therapie). Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen daher nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Solches ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts selbst bei einer bestehenden MS in sekundär-progredienter Verlaufsform in schweren Krankheitsfällen nicht anzunehmen (Bundessozialgericht, Urteil vom 27.03.2007, B 1 KR 17/06 R – Multiple Sklerose; a.A. Sozialgericht Düsseldorf, a.a.O.). Eine verfassungsrechtliche Ausweitung der Pflicht zur Kostenübernahme durch die Beklagten kommt nach alledem vorliegend nicht in Betracht. Die Kammer legt allerdings auch insoweit Wert auf die Feststellung, dass sie damit der subjektiv für die Klägerin bestehende Leidensdruck keinesfalls verkannt werden soll.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.