Sozialgericht Berlin S 82 KR 2038/02

Sozialgericht Berlin

Urteil vom 01.06.2004 (nicht rechtskräftig)

  • Sozialgericht Berlin S 82 KR 2038/02

 
 

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin folgende Unterlagen betreffend die Patientin W Sch prä- und postoperative Röntgenaufnahmen betreffend den stationären Aufenthalt der Frau Sch vom 23. Februar 1998 bis 24. März 1998 im Krankenhaus der Beklagten “Z EvB”; a) die während der Behandlung von Frau Sch vom 9. Juli 1999 bis 10. Oktober 1999 im Krankenhaus der Beklagten “Z EvB” bis einschließlich 13. August 1999 angefertigten Röntgenaufnahmen; b) Aufklärungsbogen zur Operation der Frau Sch am 26. Februar 1998 im Krankenhaus der Beklagten “Z EvB”. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Herausgabe von Behandlungsunterlagen streitig.

Die bei der Klägerin krankenversicherte W Sch geb. 10. März 1916 (künftig: Versicherte) befand sich vom 23. Februar 1998 bis 24. März 1998 in der von der Beklagten betriebenen “Z EvB Klinik” in stationärer Behandlung. Aus dem Entlassungs¬bericht vom 25. März 1998 (Bl. 7 der Gerichtsakte (GA)) ergibt sich, dass eine Lockerung der 1985 eingesetzten Hüftendoprothese festgestellt worden war und am 26. Februar 1998 ein Wechsel der Totalendoprothese (TEP) erfolgte. Nach einer Dislokation der TEP befand sich die Versicherte vom 3. bis 16. Juni 1998 in stationärer Behandlung in der Klinik der Beklagten, wo eine Reposition der TEP durchgeführt wurde (vgl. Entlassungsbericht vom 22. Juni 1998, Bl. 8 GA). Aufgrund rezidivierender Hüftgelenksluxationen (vgl. Entlassungsbericht vom 11. Oktober 1999, Bl. 9 GA) bei Zustand nach TEP-Wechsel im Februar 1998 und einer Sintierung des Schaftes wurde die Versicherte am 9. Juli 1999 bei der Beklagten erneut stationär aufgenommen. Am 26. Juli 1999 wurden ein Schaftwechsel, Drahtcerclage und die Implantation einer Schnapp-Pfanne durchgeführt, am 13. August 1999 erfolgte Condylenplattenosteo¬synthese. Am 6. Oktober 1999 wurde die Versicherte aus der stationären Krankenhaus¬behandlung entlassen.

Mit Schreiben vom 28. Oktober 1999 wandte sich der Sohn der Versicherten an die Klägerin und bat um Unterstützung bei der Aufklärung der nach seiner eigenen Ansicht und der seiner Mutter medizinisch verfehlten Behandlungen. Die Klägerin legte daraufhin die Krankenhaus¬entlassungsberichte dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), für den der Facharzt für Chirurgie R am 29. Dezember 2000 dahin gehend Stellung nahm, dass Aussagen zur korrekten bzw. unkorrekten Durchführung der Operation im März 1998 erst nach Vorlage weiterer Unterlagen – Röntgenaufnahmen und Aufklärungsbogen für die Operation aus März 1998 – möglich seien. Unter dem 31. Januar 2001 erteilte die Versicherte der Klägerin eine Schweigepflichtentbindungserklärung und Herausgabegenehmigung bzgl. der ärztlichen Unterlagen. In der Folgezeit, zuletzt mit Schreiben vom 25. Juni 2002, forderte die Klägerin bei der Beklagten erfolglos die Herausgabe der vom dem MDK benötigten Behandlungsunterlagen unter Hinweis auf ihr Tätigwerden nach § 66 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch (SGB V) und § 116 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch (SGB X) sowie § 275 Abs. 4 SGB V an. Die Beklagte lehnte eine Herausgabe mit der Begründung ab, § 275 Abs. 4 SGB V als Befugnisnorm rechtfertige nicht die Übermittlung personenbezogener Daten (Schreiben vom 26. Juli 2002, Bl. 15 GA).

Mit der am 5. September 2002 vor dem Sozialgericht Düsseldorf erhobenen Klage begehrt die Klägerin weiterhin die Herausgabe der genannten Unterlagen und stützt sich dabei auf § 275 Abs. 4 SGB V. Auch wenn eine ausdrückliche Regelung der Übermittlung von Patientendaten durch das Krankenhaus an die Krankenkasse im SGB V nicht enthalten sei, ergebe sich diese Rechtsfolge doch aus einer Auslegung und dem Gesamtzusammenhang der §§ 275, 276 SGB V (Verweis auf Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 11. Dezember 1996 – L 5 KA 1130/95 ; Bayerisches LSG vom 23. September 1998 – L 12 KA 533/96; SG Speyer vom 10. April 2000, Breithaupt 2000, 904). Anspruchsgrundlage sei darüber hinaus der mit Wirkung zum 1. Januar 2004 eingeführte § 294a SGB V, der in Satz 2 die Mitteilung zum Zwecke der Geltendmachung gemäß § 116 SGB X übergegangener Ersatzansprüche ausdrücklich regele. Mit Beschluss vom 29. November 2002 hat das Sozialgericht Düsseldorf sich für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtstreit an das Sozialgericht Berlin verwiesen.

Die Klägerin beantragt:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin folgende Unterlagen betreffend die Patientin W Sch, geb. 10. März 1916, herauszugeben,

hilfsweise zum Zwecke der Weiterleitung an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung herauszugeben:

a) prä- und postoperative Röntgenaufnahmen betreffend den stationären Aufenthalt der Frau Sch vom 23. Februar 1998 bis 24. März 1998 im Krankenhaus der Beklagten “Zentralklinik EvB”;

b) die während der Behandlung von Frau Sch vom 9. Juli 1999 bis 10. Oktober 1999 im Krankenhaus der Beklagten “Zentralklinik EvB” bis einschließlich 13. August 1999 angefertigten Röntgenaufnahmen;

c) Aufklärungsbogen zur Operation der Frau Sch am 26. Februar 1998 im Krankenhaus der Beklagten “Zentralklinik EvB”.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Nach Ansicht der Beklagten ist die Klage bereits unzulässig, da die Klageanträge zu a) und b) zu unbestimmt sind und die Klägerin nicht aktiv legitimiert ist. § 294a SGB V sei verfassungs¬konform dahin auszulegen, das eine Herausgabe von Unterlagen dann nicht zu erfolgen hat, wenn der in Anspruch genommene Leistungserbringer zugleich potentieller Schadensverur¬sacher ist, da es einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip bedeutete, den Leistungserbringer zu verpflichten, ihn möglicherweise belastende Unterlagen direkt an den Anspruchsberechtigten herauszugeben. Eine weitere Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Herausgabe von Behandlungsunterlagen existiere im SGB V nicht, auch wenn die Krankenkasse gem. § 66 SGB V handele. Etwas anderes folge auch nicht daraus, dass die Beklagte eine Einwilligungserklärung der Versicherten vorgelegt habe. Den Krankenkassen sei es verwehrt, ohne konkreten erkennbaren Anlass Patienteneinwilligungen einzuholen und so den Kreis der vor ihr zu erhebenden Daten auszudehnen, da Versicherte sich über die Konsequenzen der Erklärung für die Datenübermittlung nicht im Klaren seien.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen sowie den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist als echte Leistungsklage, § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Dem steht die Fassung des Klageantrags nicht entgegen, insbesondere teilt die Kammer die von der Beklagten vertretene Auffassung nicht, dass der Antrag zu a) und b) zu unbestimmt ist. Aus den Anträgen ergibt sich vielmehr zweifelsfrei, welche Behandlungsunterlagen die Klägerin begehrt, da sie sowohl die betreffenden stationären Krankenhausaufhalte der Versicherten als auch die begehrten Unterlagen genau bezeichnet hat. Da die Klägerin nicht weiß, zu welchen Zeitpunkten jeweils Röntgenaufnahmen gefertigt worden sind, bzw. an welchem Tag das Aufklärungs¬gespräch für die Operation im Februar 1998 geführt worden ist, ist eine datumsmäßige Bezeichnung dieser Unterlagen nicht möglich. Zudem bestimmt § 92 SGG nur, dass die Klage einen bestimmten Antrag enthalten soll. Aus der Unbestimmtheit eines Antrags folgt nicht die Unzulässigkeit der Klage, vielmehr ist der Vorsitzende gemäß § 106 Abs. 1 SGG verpflichtet, auf die Stellung sachdienlicher Anträge hinzuwirken. Auch die von der Beklagten gerügte fehlende “Aktivlegitimation” steht der Zulässigkeit der Klage nicht entgegen. Ob die Klägerin Herausgabe der streitigen Unterlagen an sich selbst verlangen kann oder ob hierzu nur der MDK befugt ist, ist gerade Streitgegenstand und im Rahmen der Begründetheit der Klage zu prüfen.

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Herausgabe der im Tenor näher bezeichneten Behandlungsunterlagen.

Anspruchsgrundlage hierfür ist § 294a SGB V, der mit Wirkung zum 1. Januar 2004 durch das GKV-Modernisierungsgesetz vom 14. November 2003 (BGBl. I 2190) in das SGB V eingefügt worden ist. Hiernach sind Vertragsärzte, ärztlich geleitete Einrichtungen und Krankenhäuser nach § 108 SGB V verpflichtet, die erforderlichen Daten, einschließlich der Angaben über Ursachen und den möglichen Verursacher, den Krankenkassen mitzuteilen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Krankheit eine Berufskrankheit im Sinne der gesetzlichen Unfallver¬sicherung oder deren Spätfolgen oder die Folge eines Arbeitsunfalls, eines sonstigen Unfalls, einer Körperverletzung, einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes oder eines Impfschadens im Sinne des Infektionsschutzgesetzes ist oder Hinweise auf drittverursachte Gesundheitsschäden vorliegen. Für die Geltendmachung von übergegangenen Schadensersatz¬ansprüchen nach § 116 SGB X übermitteln die kassenärztlichen Vereinigungen die erforder¬lichen Angaben versichertenbezogen (Satz 2). Die Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Auch aus Sicht der Kammer bietet der Krankheitsverlauf der Versicherten und die von deren Sohn in dem Schreiben vom 28. Oktober 1999 geschilderten Umstände durchaus Anhaltspunkte für das Vorliegen eines drittverursachten Gesundheitsschadens im Form eines ärztlichen Behandlungsfehlers, ohne dass bereits Aussagen dazu möglich sind, ob die geäußerten Verdachtsmomente begründet sind oder nicht. Dies aufzuklären ist gerade Ziel der von der Klägerin angestrengten Ermittlungen. Da die Klägerin hier nicht nur zur Unterstützung der Versichten gemäß § 66 SGB V tätig wird, sondern gegebenenfalls auch eigene Regress¬ansprüche verfolgt (§ 116 SGB X), bedarf es auch eines eigenen Auskunftsanspruchs gegenüber dem Krankenhaus, um das Vorliegen eines Regressfalles überprüfen und klären zu können (vgl. 18. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für Datenschutz 1990 – 2000, BT-Drs. 14/5555, Punkt 21.7). Hierfür sollte § 294a SGB V ausdrücklich eine Rechtsgrundlage schaffen.

Die Beklagte ist daher gemäß § 294a SGB V verpflichtet, der Klägerin die erforderlichen Daten zu übermitteln. Als Daten in diesem Sinne sind auch die hier streitigen Röntgenaufnahmen sowie der Operationsaufklärungsbogen anzusehen. Dieser Datenbegriff kann keinesfalls enger als der von Sozialdaten im Sinne von § 67 Abs. 1 Satz 1 SGB X verstanden werden. Sozialdaten sind hiernach Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse eines Betroffenen, die von einer in § 35 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches genannten Stelle (Leistungsträger) im Hinblick auf ihre Aufgaben nach diesem Gesetzbuch erhoben, verarbeitet oder genutzt werden. Zu den Angaben über persönliche Verhältnisse gehören auch Einzelangaben über in der Vergangenheit liegende gesundheitliche Verhältnisse, die z.B. in ärztlichen Berichten, Gutachten oder Röntgen- oder CT-Aufnahmen dokumentiert sein können (vgl. LSG München NZS 1999, 553). Auch an der Erforderlichkeit der begehrten Unterlagen bestehen aus Sicht der Kammer keine Zweifel. Vielmehr hat sich die Klägerin auf die von dem für den MDK tätigen Arzt R in seiner Stellungnahme vom 29. Dezember 2000 für notwendig erachteten Unterlagen beschränkt und im wesentlichen nur (einen Teil der) Röntgenaufnahmen verlangt, die während der stationären Aufenthalte der Versicherten angefertigt worden sind.

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 294a SGB V bestehen ebenfalls nicht, insbesondere vermag die Kammer den von dem Bevollmächtigten der Beklagten geäußerten Einwand eines Verstoßes gegen das Rechtsstaatprinzip nicht zu teilen. Diese Argumentation deutet auf den strafprozessualen und aus der Europäischen Menschenrechtskonvention abgeleiteten Grundsatz des fairen Verfahrens hin, nach dem niemand verpflichtet ist, sich selbst zu belasten. Die hier streitige Herausgabe von Behandlungsunterlagen hat damit jedoch ersichtlich nichts zu tun. Darüber hinaus kennt auch der Zivilprozess die Möglichkeit des Beweisantritts durch Vorlage von Urkunden durch den Gegner (§§ 421, 422 Zivilprozessordnung), ohne das rechtsstaatliche Bedenken hiergegen zu erheben sind.

Auch die von der Beklagten geltend gemachten datenschutzrechtlichen Bedenken greifen nicht durch. Für die Geltendmachung eines Anspruchs aus § 294a SGB V ist eine Schweigepflicht¬entbindungserklärung des Patienten nicht erforderlich, allerdings hat die Klägerin eine solche hier von der Versicherten eingeholt und der Beklagten vorgelegt. Die Argumentation, diese Erklärung sei unwirksam, da die Versicherte sich über die Reichweite der Erklärung nicht habe im klaren sein können, entbehrt jeder Grundlage. Vorliegend geht es gerade nicht um einen Sachverhalt, in dem eine Krankenkasse ohne konkreten Anlass eine derartige Einwilligung des Versicherten eingeholt hat, sondern es war die Versicherte bzw. ihr Vertreter selbst, der sich aufgrund konkreter Verdachtmomente mit der Bitte um Unterstützung an die Klägerin gewandt hat. Willensmängel sind nicht ersichtlich. Vielmehr ist die Klägerin im Interesse und auf Veranlassung der Versicherten gemäß § 66 SGB V zu deren Unterstützung tätig geworden. Aufgrund der vorliegenden Einwilligung der Versicherten bestehen deshalb datenschutzrechtlich keine Bedenken gegen die von der Klägerin begehrte Herausgabe eines Teils der bei der Beklagten vorhandenen Behandlungsunterlagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 193, 197a Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache.