Sozialgericht Bremen S 4 KR 239/06

Sozialgericht Bremen

Urteil vom 25.01.2008 (nicht rechtskräftig)

  • Sozialgericht Bremen S 4 KR 239/06
  • Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 1 KR 61/08

 

Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Kostenerstattung für eine am 10. März 2006 durchgeführte operative Brustverkleinerung (Mammareduktionsplastik – MRP -).

Die 1947 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Sie beantragte am 20. Dezember 2005 durch Vorlage eines Attestes des Dr. F. vom 07. Dezember 2005 die Kostenübernahme für eine MRP. In dem genannten Attest wurde ausgeführt, die Klägerin sei 170 cm groß und wiege 80 kg. Sie leide unter rezidivierenden Rücken- und Nackenschmerzen, tiefem Einschneiden der BH-Träger und häufigen Hautentzündungen in der Umschlagfalte beidseits. Palpatorisch seien beide Mammae ohne krankhaften Befund. Die rechte Brust sei größer als die linke Brust. Der Abstand zwischen Drosselgrube und Warzenhof betrage rechts 32 cm, links 29 cm. Angestrebt sei ein Reduktionsgewicht von rechts 600 gr und links 400 gr.

In einem auf Anforderung der Beklagten erstellten sozialmedizinischen Gutachten vom 12. Januar 2006 äußerte sich der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) dahingehend, dass bei der Klägerin eine allgemeine Adipositas mit beidseits großen Mammae vorliege. Eine krankheitswertige Mammahypertrophie sei nicht gegeben. Ursache der Rückenbeschwerden seien die Adipositas sowie eine Fehlhaltung der Wirbelsäule. Der Klägerin seien Gewichtsreduktion und Muskelaufbautraining zu empfehlen.

Mit Bescheid vom 17. Januar 2006 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit der Begründung ab, dass mangels krankheitswertigen Befundes keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung bestehe.

Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, die Problematik sei von der Beklagten nicht zutreffend erfasst worden. Sie habe mit Ausnahme der Brüste einen normalen Körperbau. Seit Jahren habe sie Gewicht reduziert und zweimal wöchentlich Muskelaufbautraining betrieben, ohne dass dies Auswirkungen auf die Brüste gehabt habe. Durch Gewichtsabnahme werde nur eine weitere Erschlaffung bewirkt, was weder der Hypertrophie noch der Asymmetrie abhelfe. Die Klägerin legte ein Attest ihrer Frauenärztin C. vom 09. Februar 2006 vor, wonach die Vornahme der MRP indiziert sei.

Am 10. März 2006 ließ die Klägerin die MRP durchführen und trug weiter vor, dass ihre orthopädischen Beschwerden ihre Ursache allein in der Mammahypertrophie gehabt hätten. Dies sei dadurch erwiesen, dass sich die orthopädischen Beschwerden nach Vornahme der MRP vermindert hätten. Die Schmerzempfindlichkeit der rechten Brust sei nach der MRP ganz verschwunden; sie verspüre auch kein Ziehen mehr in den Brüsten. Insgesamt habe sie eine deutlich verbesserte Beweglichkeit. Die Klägerin legte ein Attest des Orthopäden Dr. D. vom 08. Mai 2006 vor. Dr. D. bestätigte hierin, dass die Klägerin unter einem cervicobrachialen Syndrom, einem HWS-BWS-LWS-Syndrom und einer Osteochondrose/Spondylarthrose leide; die Beschwerden im HWS- und LWS-Bereich hätten sich nach der Operation deutlich gemindert.

Mit Widerspruchsbescheid vom 21. November 2006 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Dagegen richtet sich die am 21. Dezember 2006 erhobene Klage, mit der die Klägerin Kostenerstattung für die MRP begehrt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die Operation sei eindeutig medizinisch indiziert gewesen.

Das Gericht hat Befundberichte des Chirurgen Dr. F. vom 08. Juni 2007, des Orthopäden Dr. D. vom 09. Juli 2007 und des Hautarztes E. vom 06. August 2007 eingeholt. Der Hautarzt hat angegeben, keine dermatologischen Störungen im Zusammenhang mit der Brust behandelt zu haben. Der Chirurg hat auf die Frage, ob die Brustkorrektur die orthopädischen Beschwerden der Klägerin gelindert habe, mit “ja deutlich” und auf die Frage, ob andere Maßnahmen denselben Effekt hätten haben können, mit “nein” geantwortet. Die zweite Frage ist von dem Orthopäden ebenso schlicht verneint worden. Zu der ersten Frage hat der Orthopäde mitgeteilt, es sei “zu einer Besserung der Beschwerden in beiden Schultern gekommen”.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17. Januar 2006 i. d. F. des Widerspruchsbescheides vom 21. November 2006 zu verurteilen, die Kosten für die am 10. März 2006 erfolgte Mammareduktionsplastik in gesetzlicher Höhe zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Bescheid für zutreffend.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf die Prozessakte und die Verwaltungsakten der Beklagten. Diese Unterlagen haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Klägerin steht kein Rechtsanspruch auf Kostenerstattung für die am 10. März 2006 durchgeführte MRP zu.

Die Krankenkassen stellen den Versicherten unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes (§ 12 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – SGB V -) Leistungen zur Verfügung, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Hierbei erhalten die Versicherten die Leistungen grundsätzlich als Sach- und Dienstleistungen, soweit dieses oder das Neunte Buch nichts Abweichendes vorsehen (§ 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V). Ausnahmsweise ist nach § 13 Abs. 3 SGB V eine Kostenerstattung vorgesehen, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbst beschafften Leistungen Kosten entstanden sind. Nur für diesen Fall sind von der Krankenkasse Kosten in entstandener Höhe zu erstatten, soweit diese Leistung notwendig war.

Ein Ausnahmefall vom Sachleistungsprinzip nach Maßgabe dieser Vorschrift liegt hier jedoch nicht vor. Die in Anspruch genommene Leistung war nicht im Sinne des § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V unaufschiebbar. Wie aus dem Wortlaut “unaufschiebbare Leistungen” folgt, ist die Kostenerstattung bei selbst beschafften Leistungen nur ausnahmsweise in Notfällen zulässig. Ein “Notfall” in diesem Sinne liegt nur vor, wenn aus Sicht des betroffenen Versicherten eine solche bedrohliche Erkrankung vorliegt, dass nur eine sofortige ärztliche Behandlung Hilfe bringen kann (vgl. beispielsweise BSGE 19, 270). Als unaufschiebbare Leistungen gelten damit vorrangig Notfälle im Sinne des § 76 Abs.1 Satz 2 SGB V und andere dringliche Bedarfslagen, wie z. B. Systemversagen, Versorgungslücken oder höhere Gewalt. Ob eine Leistung “unaufschiebbar” im Sinne des § 13 Abs. 3 Satz 1 Erste Alternative SGB V ist und eine dringende Behandlungsbedürftigkeit besteht, beurteilt sich ausschließlich nach medizinischen Kriterien. In Notfällen dieser Art muss daher der übliche Beschaffungsweg mit einer für den Berechtigten unvermeidbaren Verzögerung, d.h. mit medizinischen Risiken – nicht unbedingt aber Lebensgefahr – verbunden sein, die die Erhaltung oder Besserung des Gesundheitszustandes gefährden könnten. Hiervon ist vor allem dann auszugehen, wenn heftige Schmerzen unzumutbar lange andauern würden (vgl. BSGE 34, 172). Ein derartiger Notfall im Sinne der Erforderlichkeit einer “Ersten Hilfe” (vgl. BSGE 19, 270 (272)) aufgrund der Brustgröße lag jedoch nicht vor. Zwar hat die Klägerin vorgetragen, “wegen” der Brustgröße seit längerem unter orthopädischen Beschwerden zu leiden. Hieraus allein resultiert jedoch noch keine sofortige, nicht mehr aufschiebbare, operative Korrektur.

Die Beklagte hat die Leistung auch nicht im Sinne des § 13 Abs. 3 Satz 1 Zweite Alternative SGB V zu Unrecht abgelehnt. Die am 10. März 2006 durchgeführte MRP war nicht als Maßnahme der Behandlung einer Krankheit im Sinne des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V notwendig. Eine Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne ist ein regelwidriger Körperzustand, der Behandlungsbedürftigkeit und/oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (vgl. Schmidt in Peters, Handbuch der Krankenversicherung – SGB V § 27 Rn. 50 mit Nachweisen der Rechtsprechung). Eine Regelwidrigkeit liegt vor, wenn der Körperzustand vom Leitbild eines gesunden Menschen abweicht. Dabei kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit Krankheitswert im Rechtssinne zu. Eine für die krankenversicherungsrechtliche Leistungspflicht maßgebende Krankheit liegt nur vor, wenn der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder wenn die anatomische Abweichung entstellend wirkt (BSG, Urteil vom 13.07.2004 – B 1 KR 11/04 R; Urteil vom 19.07.2004 – B 1 KR 9/04 R).

In diesem Sinne war die bei der Klägerin vor der MRP gegebene Brustgröße keine Krankheit. Weder aus dem Attest des Dr. F. vom 07. Dezember 2005 noch aus den nachfolgenden Attesten und Befundberichten ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass die Brustgröße für sich genommen bei der Klägerin eine Funktionseinschränkung darstellte. Die Brust war als Organ gesund; eine “idealtypische” Größe der Brust gibt es nach allgemeiner Anschauung nicht. Sowohl Dr. F. als auch Dr. D. befürworteten in ihren Attesten und Berichten die MRP allein wegen der Auswirkungen einer Brustverkleinerung auf die orthopädischen Beschwerden. Die Klägerin war auch nicht wegen einer äußeren Entstellung behandlungsbedürftig. Die von der Klägerin im Verwaltungsverfahren eingereichten Aufnahmen belegen, dass keineswegs die Größe oder Form der Mammae abstoßend wirkten und geeignet waren, Missempfindungen wie Erschrecken oder Abscheu oder eine anhaltende Abneigung gegenüber dem Betroffenen auszulösen (vgl. zur Entstellung LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 02.05.2002 – L 5 KR 93/01). Zu Recht weist das BSG im Urteil vom 19.10.2004 (Az.: B 1 KR 3/03 R) auch darauf hin, dass angesichts der außerordentlichen Vielfalt in Form und Größe der weiblichen Brust die Bewertung einer Vergrößerung der Brust als Entstellung kaum mit dem Krankheitsbegriff in Einklang zu bringen sei.

Eine Krankheit i.S.d. § 27 Abs. 1 SGB V liegt allerdings im Hinblick auf die diagnostizierten orthopädischen Leiden vor. Zur Behandlung dieser Leiden war die MRP aber nicht notwendig.

Dabei kann offen bleiben, ob generell diese Art von Operation ungeeignet ist, zu einer Besserung von Wirbelsäulenbeschwerden beizutragen, weil es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu einem ursächlichen Zusammenhang zwischen orthopädischen Gesundheitsstörungen und der Brustgröße gibt (so LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.10.2002 – L 4 KR 4692/01; LSG Rheinland-Pfalz vom 05.06.2003 – L 5 KR 93/02). Die Operation sollte jedenfalls nur mittelbar der Bekämpfung der auf orthopädischem Gebiet liegenden Krankheit dienen. Zwar können auch solche Maßnahmen notwendig im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB V sein, wenn sie gezielt der Krankheitsbekämpfung dienen (vgl. BSGE 85, 56, 59 f.). Eine solche “mittelbare Behandlung” bedarf jedoch einer besonderen Rechtfertigung, bei der eine Abwägung zwischen dem voraussichtlichen medizinischen Nutzen und möglichem gesundheitlichen Schaden erfolgen muss. Wird dabei in ein funktionell intaktes Organ eingegriffen, sind besonders strenge Anforderungen zu stellen, wobei Art und Schwere der Erkrankung, das Risiko und der eventuelle Nutzen der Therapie gegeneinander abzuwägen sind (BSG SozR 4-2500, § 137 c Nr. 1).

Nach diesen Grundsätzen kommt im vorliegenden Fall eine Kostenerstattungspflicht für die MRP nicht in Betracht. Zwar hat Dr. D. degenerative Veränderungen im Bereich der Schultern und der Wirbelsäule diagnostiziert. Dass diese Verschleißerscheinungen indes auf die Brustgröße zurückzuführen und derart gewichtig waren, dass sie die Erforderlichkeit einer “mittelbaren Operation” bedingen konnten, kann nicht zur Überzeugung des Gerichts festgestellt werden. Weder der prä- noch der postoperative Zustand von Schultern und Wirbelsäule sind durch die vorliegenden medizinischen Dokumente hinreichend beschrieben. Bewegungsausmaße und differenzierte Diagnosen fehlen ebenso wie Angaben zu vorherigen direkten Behandlungsversuchen, deren Erfolg und deren Dauer. Ein aussagekräftiger Vergleich des orthopädischen Beschwerdebildes vor und nach der MRP lässt sich nicht allein auf die allgemeine Angabe stützen, die Beschwerden seien gebessert. Eine weitere Sachverhaltsaufklärung durch Einholung eines Gutachtens kommt nicht in Betracht, da durch die Vornahme der MRP der körperliche Zustand der Klägerin bereits verändert ist.

Die Klage musste daher erfolglos bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).