Sozialgericht Detmold S 24 KR 1031/17

Kernpunkte:

  • Eine Kachexie erhöht das generelle Operationsrisiko.
  • Ausgeprägtes Untergewicht begründet die stationäre Erbringung von Eingriffen aus dem AOP-Katalog Kat. 2.

 

 

Sozialgericht Detmold

Urteil vom 21.12.2018
(nicht rechtskräftig)

Sozialgericht Detmold S 24 KR 1031/17

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.934,26 EUR nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 14.01.2016 zu zahlen. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattung für eine Krankenhausbehandlung.

Die am 00.00.1991 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte Frau K O wurde in der Zeit vom 30.01.2015 bis 31.01.2015 wegen Unterbauchbeschwerden stationär im Krankenhaus der Beklagten behandelt. Konkret wurde eine laparoskopische Adhäsiolyse, also ein operatives Lösen von Verwachsungen im Bauchbereich, durchgeführt. Die Versicherte wog bei einer Körpergröße von 1,64 m im Zeitpunkt der Aufnahme 45 kg. Dies entsprach einem BMI von 16,7 kg/m2.

Die Klägerin stellte der Beklagten für diese Behandlung Kosten i.H.v. 1.934,26 EUR in Rechnung, die die Beklagte vollständig beglich.

Die Beklagte leitete jedoch ein Prüfverfahren durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ein. Dieser gelangte in einem Gutachten vom 26.06.2015 durch Frau Dr. I zum Ergebnis, dass die stationäre Behandlung medizinisch nicht notwendig gewesen sei. Die betreffende Leistung werde regelhaft ambulant durchgeführt. Ein Notfall habe nicht vorgelegen. Die Leistung habe im Falle der Versicherten O ambulant durchgeführt werden können. Intra- und postoperative Komplikationen seien auch nicht dokumentiert.

In einem Schreiben vom 06.07.2015 teilte die Beklagte der Klägerin das Ergebnis des MDK-Gutachtens mit und forderte sie zur Erstattung des Rechnungsbetrages auf.

Eine Erstattung seitens der Klägerin erfolgte nicht. Die Beklagte erklärte daraufhin in einem Schreiben vom 05.01.2016, dass die den Erstattungsbetrag aus dem Behandlungsfall der Versicherten O in Höhe von 1.934,26 EUR mit einer unstreitigen Forderung aus dem Behandlungsfall der Versicherten M L verrechnen werde. Den Restbetrag aus diesem Behandlungsfall (150,49 EUR) werde sie an die Klägerin zahlen.

Am 21.11.2017 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie ist der Ansicht, dass die stationäre Behandlung notwendig gewesen sei. Die durchgeführte Operation sei mit einem höheren postoperativen Risiko wie Nachblutungen oder Verletzungen innerer Organe verbunden. Deswegen sei eine stationäre Behandlung notwendig gewesen.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 1.934,26 EUR nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 14.01.2016 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, dass die Behandlung der Versicherten O ambulant hätte durchgeführt werden können und ein Erstattungsanspruch daher nicht bestehe.

In einem von der Beklagten eingereichten weiteren MDK-Gutachten vom 22.03.2018 hat Dr. X ausgeführt, dass die theoretische Möglichkeit einer Nachblutung auch bei einer Netzadhäsiolyse nicht so groß sei, dass der Eingriff nicht ambulant erfolgen könne. Zudem sei eine solche Komplikation auch im ambulanten Setting früh genug erkennbar, so dass dann eine stationäre Aufnahme und Behandlung erfolgen könne. Somit habe präoperativ keine Notwendigkeit der stationären Behandlung bestanden. Auch während der Operation habe sich keine Komplikation ergeben. Eine heftige Nachblutung mit raschem Blutverlust sei auch im Komplikationsfall nicht zu erwarten gewesen, jedenfalls nicht so schnell, dass eine stationäre Behandlung zwingend notwendig gewesen wäre. Auch die Verletzung eines inneren Organs sei unwahrscheinlich gewesen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Dr. H vom 29.10.2018. Darin hat dieser u.a. Folgendes ausgeführt: Sowohl im Narkoseprotokoll als auch im Pflegeanamnesebogen seien Körpergröße und Körpergewicht der Versicherten O genannt. Danach habe ein BMI von 16,7 kg/m2 vorgelegen. Nach den WHO-Kriterien werde ab einem BMI von weniger als 17,5 kg/m2 von einem ausgeprägten Untergewicht gesprochen. Generell gelte, dass insbesondere übergewichtige Patienten erhöhte perioperative Risiken hätten. Dies sei in mehreren Studien nachgewiesen worden. In einer Analyse von über 300.000 durchgeführten Operationen hätten die Autoren der Studie ebenfalls entdeckt, dass auch untergewichtige Patienten ein signifikant (1,48-fach) erhöhtes Mortalitätsrisiko gegenüber Normalgewichtigen hätten. Auch das Risiko für Lungenerkrankungen und septische Komplikationen während und nach Operationen sei bei untergewichtigen Patienten erhöht. Dieser Punkt werde zwar in den Unterlagen nicht ausdrücklich als Grund für die primär stationäre Planung der Behandlung genannt, es dürfe aber unterstellt werden, dass diesem Umstand durch die primär stationär geplante Durchführung der Narkose Rechnung getragen worden sei. Jedenfalls sei unter Berücksichtigung dieses deutlich erhöhten perioperativen Risikos eine postoperative Überwachung nachvollziehbar und geboten gewesen. Wegen des Untergewichts habe entgegen der Einschätzung des MDK kein Normalfall mit normalem Risiko vorgelegen.

Die Beklagte hat daraufhin die Ansicht geäußert, dass der Sachverständige ihren Vortrag bestätige. Denn er spreche bzgl. des Untergewichts ausdrücklich von einem eingriffsunabhängigen erhöhten Risiko. Dies sei aber ein abstraktes Risiko, auf das die stationäre Aufnahme nicht gestützt werden könne. Unter Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten hätte man die Behandlung der Versicherten O ambulant beginnen und im Falle einer Komplikation eine stationäre Weiterbehandlung initiieren können. Ferner bestätige der Sachverständige, dass das Untergewicht nicht als Grund für die stationäre Planung in der Patientenakte erwähnt werde. Dies werde vom Sachverständigen vielmehr unterstellt. Außerdem fehle eine Einordnung in den ASA-Status.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie die ebenfalls beigezogenen Patientenunterlagen zum Behandlungsfall der Versicherten O verwiesen. Der Inhalt dieser Akten war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung.

Entscheidungsgründe:

Streitgegenstand ist vorliegend nicht die Kostenübernahme für die stationäre Behandlung der Versicherten K O vom 30.01.2015 bis 31.01.2015, sondern die Frage, ob die Beklagte mit einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch bzgl. dieses Behandlungsfalles aufrechnen durfte. Bei der zu Grunde liegenden Hauptforderung, mit der die Aufrechnung erklärt wurde, handelt es sich um den Behandlungsfall der Versicherten M L. Die Vergütung aus diesem Behandlungsfall ist Streitgegenstand.

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) unmittelbar zulässig, denn es geht bei einer auf Zahlung von Behandlungskosten für eine Versicherte gerichteten Klage eines Krankenhauses gegen eine Krankenkasse um einen so genannten Parteienstreit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt. Ein Vorverfahren war mithin nicht durchzuführen; die Einhaltung einer Klagefrist war nicht geboten (st. Rspr. des Bundessozialgerichts [BSG], vgl. etwa Urteil vom 23.07.2002 – B 3 KR 64/01 R -, juris Rn. 13).

Die Klage ist auch begründet.

Die Klägerin kann von der Beklagten die Zahlung von 1.934,26 EUR nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 14.01.2016 verlangen.

Rechtsgrundlage für den Vergütungsanspruch eines zugelassenen Krankenhauses gegenüber einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG, der sich die Kammer anschließt, § 109 Abs. 4 Satz 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) i.V.m. der Pflegesatzvereinbarung der Beteiligten. Der Behandlungspflicht des zugelassenen Krankenhauses nach § 109 Abs. 4 Satz 2 SGB V steht ein Vergütungsanspruch gegenüber, der nach Maßgabe des Krankenhausfinanzierungsgesetzes (KHG), des Krankenhausentgeltgesetzes und der Bundespflegesatzverordnung festgelegt wird (vgl. BSG Urteil vom 25.11.2010 – B 3 KR 4/10 R -, juris Rn. 9 f.; BSG Urteil vom 29.04.2010 – B 3 KR 11/09 R -, juris Rn. 7). Die Zahlungsverpflichtung der Krankenkasse entsteht dabei unabhängig von einer Kostenzusage unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch einen Versicherten. Da der Zahlungsanspruch des zugelassenen Krankenhauses jedoch in aller Regel mit dem Naturalleistungsanspruch des Versicherten auf Krankenhausbehandlung korrespondiert, müssen beim Versicherten bei der Aufnahme in das Krankenhaus grundsätzlich die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sowie Krankenhauspflegebedürftigkeit vorliegen (Landessozialgericht Niedersachsen Urteil vom 30.01.2002 – L 4 KR 110/00 -, juris Rn. 22). Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Der Leistungsumfang umfasst gemäß §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5, 39 Abs. 1 Satz 1 SGB V auch Krankenhausbehandlung, die vollstationär, teilstationär, vor- und nachstationär sowie ambulant erbracht wird. Der Sachleistungsanspruch des Versicherten umfasst vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus (§ 108 SGB V), wenn die Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V).

Nach einem Beschluss des Großen Senats des BSG vom 25.09.2007 (Az.: GS 1/06) richtet sich die Entscheidung, ob einem Versicherten vollstationäre Krankenhausbehandlung zu gewähren ist, allein nach den medizinischen Erfordernissen. Ob eine stationäre Krankenhausbehandlung aus medizinischen Gründen notwendig ist, hat das Gericht im Streitfall uneingeschränkt zu überprüfen. Es hat dabei von dem im Behandlungszeitpunkt verfügbaren Wissens- und Kenntnisstand des verantwortlichen Krankenhausarztes auszugehen. Eine “Einschätzungsprärogative” kommt dem Krankenhausarzt dabei nicht zu (Beschluss des Großen Senats des BSG vom 25.09.2007 – GS 1/06 -, juris Rn. 29).

Die Erforderlichkeit der hier streitigen stationären Behandlung der Versicherten M L und die ordnungsgemäße Abrechnung sind zwischen den Beteiligten unstreitig.

Dieser Vergütungsanspruch erlosch auch nicht dadurch, dass die Beklagte mit einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch wegen Überzahlung der Vergütung für die Krankenhausbehandlung der Versicherten K O analog § 387 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) die Aufrechnung erklärte.

Die Aufrechnung ist unbegründet. Die stationäre Behandlung der Versicherten O war gemessen an den oben genannten Kriterien medizinisch erforderlich. Dies steht zur Überzeugung der Kammer nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens unter Berücksichtigung der Ausführungen des Sachverständigen Dr. H fest.

Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei der streitigen Operation um eine Leistung handelte, die nach dem AOP-Vertrag sowohl ambulant als auch stationär erbracht werden kann (Kategorie 2-Leistung). Im vorliegenden Fall war aus Sicht der Kammer eine stationäre Behandlung deshalb medizinisch erforderlich, weil es aufgrund des erheblichen Untergewichts der Versicherten O aus Ex-ante-Sicht ein nicht zu unterschätzendes Komplikationsrisiko gab, dem nur durch eine stationäre Planung und Durchführung der Operation begegnet werden konnte.

Die Versicherte O wog im Zeitpunkt der Operation 45 kg bei einer Körpergröße von 1,64 m. Dies entsprach einem BMI von 16,7 kg/m2. Der Sachverständige Dr. H führt in diesem Zusammenhang aus, dass nach den einschlägigen WHO-Kriterien bereits ab einem BMI von weniger als 17,5 kg/m2 von einem ausgeprägten Untergewicht gesprochen wird. Ferner verweist er auf Studien, die belegen, dass nicht nur bei übergewichtigen Patienten, sondern auch bei untergewichtigen Patienten erhöhte perioperative Risiken bestehen. So haben Wissenschaftler nach einer Analyse von über 300.000 durchgeführten Operationen festgestellt, dass untergewichtige Patienten ein signifikant (1,48-fach) erhöhtes Mortalitätsrisiko gegenüber Normalgewichtigen haben. Auch das Risiko für Lungenerkrankungen und septische Komplikationen während und nach Operationen ist bei untergewichtigen Patienten erhöht. Anders als die Beklagte meint, handelt es sich hierbei nicht um ein abstraktes, sondern um ein konkretes Komplikationsrisiko, das seine Grundlage in der körperlichen Verfasstheit der Versicherten O fand. Wegen des erhöhten Mortalitätsrisikos war eine Durchführung unter ambulanten Bedingungen weder möglich noch zumutbar und ärztlich auch nicht zu verantworten. Deswegen kann die Beklagte auch nicht mit dem Einwand gehört werden, dass zunächst eine ambulante Operation geplant werden sollte und im Falle einer Komplikation eine stationäre Überweisung hätte in Betracht gezogen werden können. Die Beklagte verkennt dabei, dass es wegen des erhöhten Risikos nicht zumutbar war, die Operation unter ambulanten Bedingungen durchzuführen, weil im Falle einer Komplikation schnell mithilfe der personellen und sächlichen Ausstattung eines Krankenhauses hätte reagiert werden müssen.

Es ist auch unerheblich, ob das Untergewicht ausdrücklich in den Unterlagen als Grund für die primär stationäre Planung der Behandlung genannt wurde. Entscheidend ist, dass aus der Ex-ante-Sicht eines Krankenhausarztes eine stationäre Planung und Durchführung wegen des erheblichen Untergewichts medizinisch gebocten war, was auch vom Sachverständigen Dr. H bestätigt wird. Die anderslautende Einschätzung des MDK ist zurückzuweisen, weil sie sich mit dem durch das Untergewicht ausgelösten Risiko nicht auseinander setzt.

Der Anspruch auf Zahlung von Verzugszinsen besteht nach § 15 Abs. 1 Satz 4 des Landesvertrages i.V.m. §§ 286 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1, 288 Abs. 1 Satz 1 BGB in Höhe von zwei Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 14.01.2016 (vgl. BSG Urteil vom 12.07.2012 – B 3 KR 18/11 R -, juris Rn. 29 ff.).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung.