Sozialgericht Dresden S 18 KR 58/06

Sozialgericht Dresden

Urteil vom 30.04.2009 (nicht rechtskräftig)

  • Sozialgericht Dresden S 18 KR 58/06

 
 

I. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 333,97 EUR nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 551,18 EUR für den Zeitraum vom 22.07.2005 bis zum 02.03.2006 sowie aus 333,97 EUR ab dem 03.03.2006 zu zahlen.

II. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

III. Der Streitwert wird auf 551,18 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Vergütung einer vollstationären Krankenhausbehandlung.

Der am 13.02.2002 geborene Versicherte der Beklagten S. wurde am 11.04.2005 zur Behandlung einer Rachenmandelhyperplasie ins Krankenhaus der Klägerin in B. aufgenommen, wo am selben Tag in Intubationsnarkose eine Adenotomie (Rachenmandelentfernung) vorgenommen wurde. Nach komplikationslosem Verlauf wurde der Versicherte am nächsten Tag, dem 12.04.2005, entlassen.

Bei der vorangegangenen Aufnahmeuntersuchung am 05.04.2005 hatten die in N. wohnenden Eltern des Versicherten in einem Fragebogen angegeben, der Eingriff möge nicht ambulant durchgeführt werden, da ein Notarzt im Notfall weniger gut erreichbar sei. Der über die Durchführung der Krankenhausbehandlung entscheidende Arzt hatte hierzu als Grund für die stationäre Aufnahme eine Entfernung von 25 km zwischen der Wohnung und der Klinik vermerkt.

Mit ihrer am 19.04.2005 bei der Beklagten eingegangenen Rechnung vom 18.04.2005 machte die Klägerin folgende Vergütungsforderung geltend:

G-DRG Nr. D13Z 1.053,66 EUR Abschlag wg. Unterschreitung der unteren Grenzverweildauer – 510,58 EUR DRG-Systemzuschlag 0,85 EUR Systemzuschlag §§ 91, 139a SGB V 0,45 EUR Investitionszuschlag neue Länder § 8 Abs. 3 KHEntG, § 14 Abs. 3 GSG 5,62 EUR Qualitätssicherungs-Zuschlag 1,18 EUR Rechnungssumme 551,18 EUR

Die Beklagte lehnte eine Begleichung des Rechnungsbetrags mit Schreiben vom 26.04.2005, 23.06.2005 und 21.07.2005 ab. Gestützt auf eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Bayern vom 20.06.2005 vertrat sie die Auffassung, es handele sich um einen in der Regel ambulant durchführbaren Eingriff. Gründe für eine stationäre Durchführung lägen nicht vor. Bei einer tatsächlichen Entfernung von 16 km zwischen Krankenhaus und Wohnort sei die Notfallversorgung gewährleistet.

Mit ihrer am 17.02.2006 beim Sozialgericht Dresden eingegangenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Zahlungsbegehren weiter. Im Hinblick auf die Entfernung zwischen Wohnort und Krankenhaus liege hier ein begründeter Ausnahmefall für eine stationäre Behandlung vor.

Am 03.03.2006 hat die Beklagte der Klägerin einen Teilbetrag von 217,21 EUR gezahlt. Dies entspricht der Vergütung für eine Adenotomie als ambulante Operation im Krankenhaus.

Die Klägerin hat daraufhin den Rechtsstreit hinsichtlich der Hauptforderung im Umfang der geleisteten Teilzahlung von 217,21 EUR sowie hinsichtlich der hierauf nach Zahlungseingang entfallenden Zinsansprüche für erledigt erklärt.

Im verbleibenden Umfang des Klagebegehrens beantragt die Klägerin,

die Beklagte zu verurteilen, weitere 333,97 EUR nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem Basiszinsatz aus 551,18 EUR für den Zeitraum vom 22.07.2005 bis zum 02.03.2006 sowie aus 333,97 EUR ab dem 03.03.2006 zu zahlen.

Die Beklagte hat sich der Teilerledigungserklärung angeschlossen und beantragt im Übrigen,

die Klage abzuweisen.

Sie sieht die stationäre Aufnahme weiterhin als nicht erforderlich an.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der gerichtlichen Verfahrensakte mit der Niederschrift über die mündliche Verhandlung und auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat auf Grundlage von § 7 Satz 1 Nr. 1 KHEntgG sowie § 17b Abs. 1 Satz 3 KHG in Verbindung mit § 39 Abs. 1 SGB V, § 1 Abs. 1 Satz 1 und Anlage 1 Teil a FPV 2005 einen Anspruch auf Vergütung der in ihrer Einrichtung erbrachten Behandlungsleistungen als Leistungen der vollstationären Krankenhausbehandlung im Sinne des § 39 Abs. 1 SGB V.

Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V haben Versicherte Anspruch auf vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus, wenn die Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann.

Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit im Sinne dieser Regelung lag vor. Der Versicherte hatte gegen die Beklagte einen Anspruch darauf, nach der Operation über Nacht in der Klinik der Klägerin auf Kosten der Beklagten stationär versorgt und erst am nächsten Tage entlassen zu werden.

Im Ausgangspunkt zutreffend hat sich der von der Beklagten hinzugezogene Medizinische Dienst der Krankenversicherung im Rahmen der ihm aufgetragenen Prüfung, ob eine sog. primäre Fehlbelegung vorliegt (vgl. § 17c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KHG), auf § 4 Abs. 2 Nr. 1 der gemäß § 17c Abs. 4 Satz 9 KHG zwischen der Deutschen Krankenhausgesellschaft und den Spitzenverbänden der Krankenkassen vereinbarten Gemeinsamen Empfehlungen zum Prüfungsverfahren nach § 17c KHG vom 06.04.2004 gestützt. Danach ist Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit unstreitig dann gegeben, wenn eines oder mehrere der Kriterien des Katalogs in Anlage 2 der Empfehlungen (G-AEP-Kriterien) die Schwere der Erkrankung und/oder die Intensität der Überwachung oder Behandlung zum Zeitpunkt der Aufnahme belegen; hinsichtlich der besonderen Begründungspflicht (allgemeine Tatbestände) sind bei Leistungen, die in der Regel ambulant erbracht werden sollen, die Vereinbarungen nach § 115b SGB V zu beachten. Gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 bis 5 sowie Satz 5 bis 8 der Präambel zu Anlage 2 der Empfehlungen kann wegen der Individualität medizinischer Sachverhalte auf Grund der Gesamtbewertung des Krankheitsbildes die Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung auch dann gegeben sein, wenn keines der Kriterien des Katalogs nach Anlage 2 bzw. Anlage 3 erfüllt ist. Umgekehrt kann die Notwendigkeit verneint werden, obwohl ein Kriterium erfüllt ist. In diesen Fällen ist sowohl für den behandelnden Krankenhausarzt im Rahmen seiner Behandlungsentscheidungen als auch für den MDK-Prüfarzt im Rahmen seiner Beurteilungsentscheidungen das ärztliche Ermessen Ausschlag gebend (Override Option). Eine Ausübung dieser abweichenden Ermessensentscheidung ist im Einzelfall zu begründen und zu dokumentieren.

In Anlage 1 in Verbindung mit § 3 Abs. 2 des in den Empfehlungen unter Bezug genommenen Vertrages nach § 115b SGB V ist die Adenotomie als Leistung gekennzeichnet, die in der Regel ambulant durchgeführt werden kann; eine stationäre Durchführung kommt bei Vorliegen bzw. Erfüllung der in Anlage 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 3 des Vertrages genannten Tatbestände in Betracht.

Die Ärzte der Klägerin und die Eltern des Versicherten haben die stationäre Behandlungsbedürftigkeit sinngemäß darauf gestützt, dass wegen der Entfernung zwischen Wohnort und Krankenhaus im Falle von Komplikationen das Klinikum nicht in angemessener Zeit erreichbar sei. Dies entspricht den Gründen für eine stationäre Versorgung nach Abschnitt F (soziale Faktoren, auf Grund derer eine medizinische Versorgung des Patienten nicht möglich wäre, in Verbindung mit Operationen oder anderen krankenhausspezifischen Maßnahmen) Nr. F.2 (Keine Transportmöglichkeit oder schlechte Erreichbarkeit durch Stellen, die Notfallhilfe leisten könnten) der G-AEP-Kriterien in Anlage 2 der Empfehlungen zum Prüfungsverfahren nach § 17c KHG.

Die Gefahr postoperativer Blutungen nach der Entfernung der Rachenmandeln ist deutlich geringer und in ihren Auswirkungen – statistisch gesehen – weniger gravierend als bei der Entfernung der Gaumenmandeln (Tonsillektomie), bei der generell eine mehrtägige stationäre Aufnahme empfohlen wird (vgl. Arnolder et al., Wien Klin Woschenschr. 2008; 120 [11-12]: 336-342, Windfuhr et al., Otolaryngol Head Neck Surg., 2009; 140 [2]: 191-196, Windfuhr et al., HNO 2003 51 [8]: 622-628). Gleichwohl handelt es sich um ein für den Eingriff typisches Risiko, das sich ungeachtet seiner geringen statistischen Häufigkeit wiederholt schicksalhaft verwirklicht.

Die Kammer kann offen lassen, ob der Beklagten dahin gehend zu folgen ist, dass die Entfernung von der Wohnung des Versicherten ins Krankenhaus allein hier noch nicht die mangelnde Erreichbarkeit notwendiger ärztlicher Hilfe im Falle postoperativer Komplikationen zu begründen vermag. Die Darstellung der Ärzte und der Eltern des Versicherten ist insoweit richtig zu stellen, als sich die Entfernung zwischen der elterlichen Wohnung und dem Krankenhausstandort B., wo sich die Pädiatrische Abteilung befindet, über die Staatsstraße S nur auf 16 km und damit schätzungsweise etwas mehr als 20 Minuten reine Fahrzeit beläuft. Für die Erreichbarkeit ärztlicher Hilfe durch die Eltern im Notfall ist eine solche Fahrtzeit allerdings schon nach abstrakten Kriterien, ohne Rücksicht auf behandlungsspezifische Risiken oder die individuellen Veranlagung des Patienten als grenzwertig einzuschätzen. Zum Vergleich: Nach § 39 Abs. 4 Nr. 3 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) und § 31 Abs. 4 Nr. 3 Bundesmantelvertrag Ärzte/Ersatzkassen (EKV-Ä) setzt die Anerkennung als Belegarzt voraus, dass Wohnung und Praxis eines niedergelassenen Arztes so nahe am Krankenhaus liegen, dass die unverzügliche und ordnungsgemäße Versorgung der ambulant und stationär zu betreuenden Versicherten gewährleistet ist. Die Rechtsprechung hat dieses Kriterium bei Fahrtzeiten von 30 Minuten für einen Gynäkologen (Landessozialgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 23.11.1999, Az. L 6 KA 18/99) bzw. 40 Minuten Hin- und Rückfahrt für einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 14.07.1999, Az. L 5 KA 3006/98) verneint. Das Bundessozialgericht erachtet diese Rechtsprechung als in der Praxis weitgehend akzeptiert und ihrer Tendenz nach nicht zu beanstanden; sie berücksichtige, dass der Belegarzt die volle Verantwortung für einen stationär behandelten Patienten übernimmt und in der Lage sein muss, bei Komplikationen, zum Beispiel nach größeren Operationen, kurzfristig die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten bzw. zu treffen (Urteil vom 05.11.2003, Az. B 6 KA 2/03 R). Die zeitlichen Kriterien für die Beurteilung der rechtzeitigen Erreichbarkeit des Patienten durch den Belegarzt stellen für die Frage der Erreichbarkeit des Arztes durch den Patienten bzw. dessen Angehörige als Orientierungsmaßstab eine Untergrenze dar. Zwar wäre der Versicherte im Falle etwaiger postoperativer Blutungen von der nächstgelegenen Rettungswache K. aus innerhalb der gesetzlichen Hilfsfrist von 12 Minuten nach § 3 Abs. 1 und 2 SächsLRettDPVO und § 26 Abs. 2 Satz 5 SächsBRKG erreichbar. Dabei handelt es sich indessen um eine planerisch-statistische Vorgabe, die insbesondere in sog. Kollisionsfällen nicht immer eingehalten werden kann. Zudem ist nicht gesichert, dass es sich bei dem im Rettungsdienst eingesetzten Notarzt um einen Arzt mit kinder(notfall)ärztlicher Erfahrung handelt.

Die Kammer sieht hier eine Ausnahme vom Regelfall der ambulanten Durchführung der Operation als gerechtfertigt an, weil aus dem in den Krankenunterlagen dokumentierten Alter des Versicherten ohne Weiteres das (zusätzliche) Vorliegen der Kriterien nach Nr. F.3 der G-AEP-Kriterien in Anlage 2 der Empfehlungen zum Prüfungsverfahren nach § 17c KHG (Mangelnde Einsichtsfähigkeit des Patienten) bzw. Abschnitt 2 zweiter Absatz Buchst. a der Anlage 2 zum Vertrag nach § 115b SGB V (fehlende Kommunikationsmöglichkeit des Patienten im Fall von postoperativen Komplikationen) ergibt.

Der Versicherte hatte im Zeitpunkt des Eingriffs gerade das 3. Lebensjahr vollendet. Eine schematische Anwendung abstrakter Kriterien für die Beurteilung der Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit verbietet sich bei Kindern in diesem Alter von selbst. Kind ist nicht gleich Kind. Der Eingriff ist zwar ab der Altersgruppe ab 3 bis 6 Jahre üblich. Der Versicherte befand sich jedoch erst auf der Schwelle von der Altersgruppe 0 bis 2 Jahre zur Altersgruppe 3 bis 6 Jahre. Für diese Altersphase stellt der Eingriff noch eine Ausnahme dar:

Tabelle: Lebenszeitprävalenz der Adenotomie in % Alter Gesamt Mädchen Jungen 0-2 1,3 1,4 1,3 3-6 12,4 9,7 15,0 7-10 18,2 15,1 21,2 11-13 20,0 18,1 21,9 14-17 18,3 19,0 17,5 Quelle: Kamtsiuris et al., Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS), Bundesgesundheitsblatt 50 (2007) Nr.5/6 S. 836 (S. 845 f.)

Im Unterschied zu einem etwa 5- oder 6-Jährigen verfügt ein Kind in diesem Alter noch nicht über ein ausreichendes Körpergefühl, um – namentlich nach einer Vollnarkose – evtl. Komplikationen überhaupt als solche zu bemerken, sie von den normalen Beschwerden nach dem Eingriff zu unterscheiden und für die Eltern erkennbar mitzuteilen. Die damit verbundenen Risiken sind um so größer, wenn Komplikationen nicht ohne Weiteres äußerlich sichtbar sind, wie hier die Gefahr des Verschluckens oder der Aspiration austretenden Blutes im Schlaf. Sollte es zu Blutungen kommen, besteht die Gefahr, dass – vor allem nachts – bis zum Erkennen der Gefahr durch die in der Regel nicht medizinisch ausgebildeten Eltern wertvolle Zeit verloren geht, die zur tatsächlichen Hilfsfrist hinzuzurechnen ist.

Lehnen die Eltern des Kindes vor diesem Hintergrund aus Unsicherheit und Sorge um ihr Kind die Übernahme der Verantwortung für ein rechtzeitiges Erkennen einer Notfallsituation und der spontan zu ergreifenden Notfallmaßnahmen daheim ab, so ist das ohne weiteres nachvollziehbar und erfüllt zugleich die Kriterien nach Nr. F.4 der G-AEP-Kriterien in Anlage 2 der Empfehlungen zum Prüfungsverfahren nach § 17c KHG bzw. Abschn. 2 zweiter Absatz Buchst. b der Anlage 2 zum Vertrag nach § 115b SGB V (fehlende sachgerechte Versorgung im eigenen Haushalt). Der Wunsch der Eltern, ihr Kind trotz der ungewohnten Umgebung unter diesen Umstände lieber im Krankenhaus zu lassen, ist berechtigt und von den behandelnden Ärzten wie auch vom Kostenträger zu respektieren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 VwGO. Der gemäß § 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit § 1 Nr. 4 GKG und § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG nach der sich aus dem Klageantrag ergebenden Bedeutung der Sache festzusetzende Streitwert entspricht der Höhe der streitgegenständlichen Forderung (§ 52 Abs. 3 GKG).