Sozialgericht Freiburg S 5 KR 6370/11
Sozialgericht Freiburg
Az.; S 5 KR 6370/11
Verkündet am 24.05.2012
Im Namen des Volkes
Urteil
in dem Rechtsstreit
Die 5. Kammer des Sozialgerichts Freiburg hat auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 24.05.2012 durch den Richter am Sozialgericht Grünthal als Vorsitzender sowie die ehrenamtlichen Richter Günter Ganter und Dirk Zimmermann für Recht erkannt:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin für die stationäre Behandlung des Patienten ####### weitere 1.249,65 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 30.8.2008 zu zahlen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Der Streitwert wird auf 1.249,65 € festgesetzt.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin im Behandlungsfall eines Versicherten die bei der Groupierung das Entgelt erhöhende Nebendiagnose eines akuten Nierenversagens kodieren durfte.
Die Klägerin behandelte vom 30.5. bis 6.6.2008 den bei der Beklagten versicherten Patienten wegen einer akuten Zystitis. Mit Rechnung vom 29.7.2008 stellte sie unter Angabe der DRG-Ziff. L63C („Infektionen der Harnorgane mit äußerst schweren CC“) hierfür 3.056,21 € in Rechnung. In den für das Grouping übermittelten Daten war neben der Hauptdiagnose N30.0 („akute Zystitis“) als Nebendiagnose unter anderem nach ICD-l0 die Diagnose N17.8 („sonstiges akutes Nierenversagen…“) verschlüsselt worden. Da die Beklagte die schweregradsteigernden Nebendiagosen bezweifelte, schaltete sie am 2.9.2008 den MDK ein, der in mehreren Gutachten die Nebendiagnose N17.8 nicht anerkannte, da die Kriterien des Nierenversagens nicht erfüllt gewesen seien und allenfalls N19 als Nebendiagnose kodierfähig sei, was sich auf das korrekte Grouping-Ergebnis – DRG L63F („Infektionen der Harnorgane ohne äußerst schwere CC“) – aber nicht auswirke.
Die Beklagte bezahlte nur den aus DRG L63F resultierenden Rechnungsbetrag von insgesamt 1.806,56 €, weshalb die Klägerin am 21.10.2009 Leistungsklage auf Bezahlung des ausstehenden Differenzbetrages zu ihrer Rechnung vom 29.7.2008 erhoben hat.
In dieser Klinikrechnung werde korrekterweise von der Abrechnungsziffer DRG L63C ausgegangen. Zuzugeben sei, dass das akute Nierenversagen bei fehlendem histologischen Befund mit N17.9 statt N17.8 zu verschlüsseln sei, was aber am Grouping – Ergebnis, das die Klinik für richtig halte, nichts ändere und somit nicht entgeltrelevant sei.
Eine allgemeine Definition des akuten Nierenversagens existiere nicht, aber es gebe die auch vom MDK in seinen Stellungnahmen im Prozess erwähnten RIFLE-Kriterien, die 2007 von der internen Arbeitsgruppe AKIN überarbeitet worden seien. Alle fünf RIFLE-Stadien und alle drei später entwickelten AKIN-Stadien müssten im Gegensatz zum MDK als Stadien eines akuten Nierenversagens begriffen werden. Die Klägerin bezog sich dazu auch auf eine Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie (DGN) zur Kodierung des akuten Nierenversagens.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zur verurteilen, an die Klägerin für die stationäre Behandlung des Patienten weitere 1.249,65 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 30.8.2008 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat ein MDK-Gutachten vom 26.04.2010 und, auf die vom Gericht eingeholte sachverständige Zeugenaussage hin, ein weiteres ausführliches MDK-Gutachten vom 31.5.2011 vorgelegt und sich dessen Argumentation zu eigen gemacht.
Das Gericht hat eine sachverständige Zeugenaussage des behandelnden leitenden Klinikoberarztes, Privatdozent Dr. Kühn, eingeholt, der zusätzliche Internetrecherche-Ergebnisse vorgelegt hat.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist als reine Leistungsklage zulässig und auch begründet, denn die Klägerin hat die stationäre Behandlung zu Recht mit der DRG L63F abgerechnet, so dass ihr der noch ausstehende Differenzbetrag zusteht, für den die Beklagte ab Eintritt der Fälligkeit – ein Monat nach Rechnungseinreichung – auch Verzugszinsen zu bezahlen hat (§§ 288 BGB, 19 Abs. 1 Landesvertrag vom 01.01.2006).
Die Klägerin hat aus Anlass der Behandlung des Patienten zu Recht die für das Verschlüsselungsergebnis L63F mit maßgebende Nebendiagnose eines akuten Nierenversagens (N17.8 bzw. N17.9) verschlüsselt. Der Auffassung des MDK in seinen Gutachten, lediglich bei Vorliegen des AKIN-Stadiums 3 sei die Begrifflichkeit eines akuten Nierenversagens erfüllt, kann nicht gefolgt werden.
Bei der auf § 17b SGB V beruhenden Vergütung von Krankenhausleistungen nach dem DRG-System sind der Fallpauschalenkatalog, der die für Diagnosen und Nebendiagnosen maßgebenden DRG-Ziffern enthält, sowie der Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) streng nach ihrem Wortlaut und nach den Kodierrichtlinien (DKR) auszulegen (BSG, Urteil vom 18.09.2008. B 3 KR 15/07 R, SozR 4-2500 § 109 Nr.ll). Nach Abschnitt D003d der DKR ist die zusätzliche Verschlüsselung einer Nebendiagnose, wie hier, erlaubt, wenn dadurch das Patientenmanagement in der Weise beeinflusst wird, dass entweder ein wie immer gearteter zusätzlicher Aufwand an therapeutischen oder diagnostischen Maßnahmen oder ein erhöhter Betreuungs-, Pflege- und/oder Überwachungsaufwand erforderlich wird (der nur für die Hauptdiagnose nicht angefallen wäre). Zur Frage, was unter einem akuten Nierenversagen zu verstehen ist, enthalten die DKR keine näheren Vorgaben.
Die geforderte „wortlautgetreue Auslegung“ des Begriffs muss sich, ausgehend vom allgemeinen Sprachgebrauch, vernünftigerweise an den in medizinischen Fachkreisen eingebürgerten Begrifflichkeiten orientieren, sofern es solche gibt. Insoweit stellt der MDK in seinem Gutachten vom 26.4.2010 zutreffend dar, dass 2004 von einer internationalen Konsensuskonferenz Kriterien zur Definition des akuten Nierenversagens erarbeitet worden seien, weil eine entsprechende einheitliche Definition gefehlt habe. Es seien damals die sogenannten RIFLE·Kriterien (Risk, Injury, Failure, Loss und End stage kidney disease) erarbeitet worden. Er weist dabei ausdrücklich auf einen Aufsatz von Bellomo R u. a. unter dem Titel „Acute renal failure – definition, outcome measures, animal models, fluid therapy and information technology needs: the Second International Consensus Conference of the Acute Dialysis Quality Initiative (ADQI) Group“ hin. Schon der Titel dieses wissenschaftlichen Aufsatzes zeigt, dass es der zweiten Internationalen Konsensuskonferenz um die Definition des Acute renal failure, d. h. des akuten Nierenversagens ging, für die fünf Kriterienstufen von „Risiko“ bis hin zu „Nierenerkrankung im Endstadiurn“ entwickelt worden waren. Weiter weist der MDK zutreffend darauf hin, dass diese Kriterien 2007 von einer internationalen Arbeitsgruppe AKIN („Acute Kidney Injury Network“) aufgegriffen und überarbeitet worden sind. Der MDK meint dann weiter, hier sei eine international breit anerkannte Definition der akuten Nierenschädigung mit drei Untergruppen getroffen worden, nämlich AKIN 1 (Risiko), AKIN 2 (Injury) und AKIN 3 (Failure). Nur wenn die Kriterien von AKIN 3, nämlich Failure (zu Deutsch: Versagen) erfüllt seien, liege definitionsgemäß ein akutes Nierenversagen im Sinne der Nebendiagnose N17.9 vor.
Diese Schlussfolgerung des MDK überzeugt die Kammer nicht. Der sachverständige Zeuge hat im Gegenteil einleuchtend und nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass im amerikanischen Sprachgebrauch der Begriff „Acute renal failure“ (akutes Nierenversagen) durch den Begriff „Acute Kidney Injury“ (akute Nierenschädigung) ersetzt worden sei, wobei eine sprachliche Neudefinition in Deutschland aber nicht erfolgt sei. Der Terminus Acute Kidney Injury umfasse aber in allen Stadien per definitionem das gesamte Spektrum des akuten Nierenversagens, weshalb es in der Originalpublikation von Mehta und anderen zu den AKIN-Kriterien auch ausdrücklich heiße: „the term acute kidney injury is proposed to represent the entire spectrum of acute renal failure“ (der Terminus akute Nierenschädigung wurde vorgeschlagen, um das gesamte Spektrum des akuten Nierenversagens darzustellen). Zutreffend weist der sachverständige Zeuge auch auf die „Klarstellung zur Kodierung des akuten Nierenversagens“ der DGN vom 26.2.2010 hin, wonach ein akutes Nierenversagen bei Anstieg des Serumkreatinins von einem gemessenen oder angenommenen Ausgangswert um mehr als 50 % innerhalb von 7 Tagen oder bei einem Anstieg über einen gemessenen Ausgangswert um mehr als 0,3 mg/dl innerhalb von 48 Stunden vorliege, außerdem bei nicht dehydrierten Patienten mit einer gemessenen Urinausscheidung von weniger als 0,5 ml/kg/h in 6 Stunden.
Die Kammer hält darüber hinaus auch die von dem sachverständigen Zeugen vorgetragenen Argumente aus physiologischer Sicht zur Begrifflichkeit des akuten Nierenversagens für überzeugend. Er hat ausgeführt, dass in der klinischen Medizin die indirekte Quantifizierung der Nierenfunktion das Übliche sei. Dazu werde die Serumkonzentration des Muskelstoffwechselabbauproduktes Kreatinin herangezogen, das in gleicher Menge täglich gebildet werde, abhängig von der Muskelmasse. Die Ausscheidung von Kreatinin erfolge zu über 90 % über die Niere, so dass eine direkte Korrelation zwischen Nierenfunktion und dem Kreatinin-Serumspiegel vorliege. Aus physiologischen Gründen würden daher unter Normalbedingungen nur geringe Schwankungen des Serumkreatinins beobachtet. Komme es zu einer plötzlichen Verschlechterung der Nierenfunktion, so steige angesichts gleichbleibender Kreatininproduktion das Serumkreatinin an. In dem Falle, in dem die Nierenfunktion permanent schlecht bleibe, stelle sich im Verlauf der nächsten Tage ein neuer, höherer Serumkreatininspiegel ein. Während das Kreatinin so täglich ansteige, sei keine Formel-basierte Abschätzung der restlichen Nierenfunktion möglich. Das heiße, dass bei einem Patienten mit kompletten Ausfall der Nierenfunktion das Kreatinin am ersten Folgetag beispielsweise von 1 auf 1,5 steige nach einem weiteren Tag auf 2,5 und am nächsten Tag auf 3,5 mg/dl. Dennoch sei während dieser gesamten Zeit die Nierenfunktion schon beinahe Null. Aus diesem Grund sei für das Vorliegen eines akuten Nierenversagens im Sinne einer akuten Einschränkung der Nierenfunktion die Tatsache maßgeblich, dass das Kreatinin ansteige, jedoch nicht die Frage, wie sehr es ansteige. Traditioneller Weise habe sich ein Anstieg des Serumkreatinins von 0,3 mg/dl oder mehr innerhalb weniger Tage als Diagnosekriterium für ein akutes Nierenversagen etabliert und sei so auch in den AKIN-Kriterien festgeschrieben worden. Die Kammer hält diese Argumentation für schlüssig.
Bei dem Patienten stand zwar nicht fest, wie hoch der Kreatininwert vor der stationären Aufnahme wegen akuter Probleme lag (der MDK spricht insoweit von dem unbekannten chronischen Niveau), doch steht fest, dass am Aufnahmetag ein Wert von 3,85 mg/dl gemessen wurde, der bis 4.6.2008 auf 2,22 mg/dl abfiel und vor der Entlassung am 5.6.2008 bei 2,72 mg/dl lag. Insofern ist die Schlussfolgerung, das Serumkreatinin sei jedenfalls·- ausgehend von einem angenommenen Wert von etwa 2,5 mm/dl vor der Klinikaufnahme – auf das 1,5 fache angestiegen, plausibel, womit die Kriterien der DGN für ein akutes Nierenversagen erfüllt waren. Auch waren damit die Voraussetzungen für das AKIN-Stadium 1 erfüllt (“ … or increase (in serum creatinine) to 150% to 200% or more from baseline“). Der Schluss des MDK, die Klinikärzte hätten keine kontinuierliche Überwachung der Kreatininausscheidung vorgenommen und das Therapiemanagement nicht auf ein akutes Nierenversagen abgestellt, seien also offenbar selbst nicht von einem solchen ausgegangen, überzeugt nicht. Der rasche Wiederabfall des Kreatininwertes unter der Behandlung in der Klinik zwang die Ärzte nicht zu Maßnahmen, die über diejenigen hätten hinausgehen müssen, die der sachverständige Zeuge geschildert hat (Intravenöse Breitbandantibiotikumgabe, engmaschige Überwachung auf Entwicklung einer Sepsis und differentialdiagnostische Abklärung). Die Untersuchung des Urinsediments zur Differentialdiagnose war wegen der Schwere des Krankheitsbildes jedenfalls als notwendig erkannt worden, auch wenn in der Patientenakte nur der Vermerk „Urinsediment noch ausstehend“ enthalten ist.
Der Klage war nach alledem stattzugeben.
Die Kostenentscheidung war nach §§ 197 a Abs. 1 SGG, 154 I VwGO zu treffen.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 197 a Absatz 1 Satz 1 in Verbindung mit 183 SGG, §§ 63 Absatz 2 und 52 Absatz 3 GKG.
Rechtsmittelbelehrung
Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.
Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Landessozialgericht Baden-Württemberg, Hauffstr. 5, 70190 Stuttgart – Postfach 10 29 44, 70025 Stuttgart. schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.
Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist bei dem Sozialgericht Freiburg; Habsburgerstr. 127, 79104 Freiburg, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.
Die Berufungsschrift muss innerhalb der Monatsfrist bei einem der vorgenannten Gerichte eingehen. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.
gez. Grünthal
Richter am Sozialgericht
Der Berufungsschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.
Ausgefertigt:
Freiburg i. Br., den 24.05.2012
Urkundsbeamter der Geschäftsstelle