Sozialgericht Gelsenkirchen S 17 KR 205/07

Sozialgericht Gelsenkirchen

Urteil vom 21.08.2008 (rechtskräftig)

  • Sozialgericht Gelsenkirchen S 17 KR 205/07

 
 

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 29.06.2006 und des Widerspruchsbescheides vom 25.06.2007 verurteilt, die Kosten für eine operative Brust-Reduktion (Mammareduktionsplastik beiderseits) bei der Klägerin zu übernehmen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten hinsichtlich der Gewährung einer Mammareduktionsplastik.

Die am 00.00.1969 geborene Klägerin ist 159 cm groß und wiegt 67 kg. Sie leidet nach ärztlichem Zeugnis unter einer beidseitigen Mammahyperplasie und steht in ärztlicher Behandlung wegen eines chronischen Hals,- Brust- und Lendenwirbelsäulensyndroms. Unter Vorlage entsprechender ärztlicher Bescheinigungen beantragte sie bei der Beklagten unter dem 09.02.2006 die Kostenübernahme für eine brustverkleinernde Operation.

In einem Gutachten vom 21.06.2006 kam der medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) zu der Auffassung, es bestehe bei der Klägerin kein deutliches Missverhältnis zwischen Körperbau, Körperform und Größe der Brust. Die Ptosis sei altersentsprechend. Mit einer Körbchengröße D befinde sich die Größe der Brust im oberen Normbereich. Ein entstellender Befund liege nicht vor. Es imponiere hier eher ein psychisches Krankheits-bild. Das geklagte Beschwerdebild sei nicht objektivierbar. Die im Schulter-Nacken-Bereich festzustellenden deutlichen Verspannungen seien in erster Linie in Zusammen-hang mit einem Autounfall zu sehen und erforderten eine weitere orthopädisch-chirurgische Therapie. Hierauf gestützt lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29.06.2006 den Antrag der Klägerin ab. Auf den Widerspruch der Klägerin vom 11.07.2006 holte die Beklagte eine weitere Stellungnahme des MDK ein, der mit Gutachten vom 27.11.2006 bei seiner Auffassung verblieb. Dementsprechend hat der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch der Klägerin mit Bescheid vom 25.06.2007 abgewiesen.

Mit der am 25.07.2007 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgt die Klägerin ihren Anspruch weiter.

Zwischenzeitlich benötige sie einen BH der Körbchengröße F. Insoweit liege eindeutig ein Missverhältnis von Körperbau, -form und Größe der Brust vor. Hierdurch würden chronische Wirbelsäulenbeschwerden verursacht, so dass eine Indikation zur operativen Mammareduktionsplastik beiderseits gegeben sei. Dies werde auch durch die behandelnden Ärzte der Klägerin bestätigt.

Die Beklagte verbleibt bei ihrer Auffassung und verweist auf die Feststellungen des MDK. Hinsichtlich der Wirbelsäulenbeschwerden gäbe es bislang keine gesicherte wissenschaftliche Untersuchung, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Brustgröße und Wirbelsäulenbeschwerden belege.

Das Gericht hat zunächst einen Befundbericht des behandelnden Arztes der Klägerin Dr. L aus Gladbeck eingeholt. Dieser hat den Inhalt seiner bereits vorliegenden Bescheinigungen bestätigt. Die aus chirurgischer Sicht vorliegenden rezidivierenden BWS-Probleme ließen sich auch durch krankengymnastische Übungstherapien und rückenschulende Maßnahmen nicht bessern.

Sodann hat auf Anordnung des Gerichts die Fachärztin für Orthopädie Frau Dr. X ein Sachverständigengutachten erstattet. In ihrem Gutachten vom 04.03.2008 vertritt die Sachverständige zusammenfassend die Auffassung, bei der Klägerin müsse man von einem Zusammenhang zwischen der übergroßen Brust und den Schmerzen im Schulter-Nacken-Bereich und im Bereich der Brustwirbelsäule sowie zwischen den Schulterblättern ausgehen. In diesem speziellen Fall sei davon auszugehen, dass sich diese Beschwerden durch eine brustverkleinernde Operation bessern würden. Zwar sei keine Heilung oder absolute Schmerzfreiheit durch eine entsprechende Operation zu erwarten, jedoch eine Besserung der Schmerzsituation. Den Gutachten des MDK sei nicht zuzustimmen. Es bestehe keinerlei Zusammenhang zwischen den jetzt geklagten Beschwerden und der HWS-Distorsion im Jahre 2005. Ursache der geklagten Beschwerden im Schulter-Nacken-Bereich sei vielmehr die leichte Fehlhaltung und muskuläre Beschwerden, verursacht unter anderem durch den vermehrten Muskelzug durch die vergrößerte Brustdrüse sowie die degenerativen Veränderungen der Hals- und Brustwirbelsäule. Hinsichtlich der seinerzeit angegebenen grenzwertig ptotischen Makromastie bestehe seit dem damaligen Gutachten eine weitere Zunahme der Brustgröße.

Die Beklagte hat hierzu ausgeführt, nach dem Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 10.05.2007 (L 5 KR 118/04) bedürfe eine Operation zur Brustverkleinerung, die nur mittelbar der Bekämpfung der auf orthopädischem Gebiet vorliegenden Krankheit dienen solle, einer besonderen Rechtfertigung. Alle konservativen orthopädischen Behandlungsmaßnahmen unter Zuhilfenahme von Heilmitteln müssten erschöpft sein. Auch nach Kenntnis des Sachverständigengutachtens sei nach Auffassung der Beklagten von einer Mammareduktion kein großer Nutzen zu erwarten, da die bestehenden degenerativen Erkrankungen weiter bestehen würden. Außerdem seien nicht alle konservativen Behandlungsmaßnahmen ausgeschöpft. Hierzu verweist die Beklagte weitergehend auf eine ergänzende Stellungnahme des MDK vom 21.04.2008.

Die Sachverständige ist nach nochmaliger Anhörung und Vorlage dieser Stellungnahmen in einer ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 15.05.2008 bei ihren Feststellungen verblieben. Anhand durchgeführter aktueller Studien sei durchaus ein Zusammenhang zwischen den entsprechenden körperlichen Beschwerden und der übergroßen Brust nachweisbar. Die vom MDK angeführte Fehlhaltung sei durch die übergroße Brust der Klägerin verursacht, ebenso wie die muskulären Dysbalancen. Ebenso seien myogene und tendinöse Reizerscheinungen durch eine entsprechende Fehlbelastung, ausgelöst durch die übergroße Brust, zu erklären. Es müsse daher weiterhin festgestellt werden, dass die Beschwerden nicht ausschließlich, jedoch zu einem erheblichen Teil auf die bestehende Makromastie zurückgeführt werden könnten. Da es sich hierbei um eine Erkrankung handele, die durch eine entsprechende brustverkleinernde Operation “kausal” therapierbar sei, halte sie weiterhin die Mammareduktionsplastik für geeignet, um bei der Klägerin die bestehenden Beschwerden im Schulter-Nacken-Bereich, im Bereich der Brustwirbelsäule sowie auch die bestehenden Kopfschmerzen und die Fehlhaltung anhaltend zu verbes-sern. Die Aussage des MDK, dass anhand wissenschaftlich evaluierter Untersuchungen nicht belegt sei, dass durch eine brustverkleinernde Operation die Beschwerden nachhal-tig zu beeinflussen seien, sei, wie sie anhand der zitierten Studien dargelegt habe, falsch. Wie ebenfalls bereits ausführlich dargelegt, sei bei der Klägerin bereits regelmäßig intensive Krankengymnastik durchgeführt worden. Sie sei auf Grund der entsprechend durchgeführten Anleitung selbst in der Lage, die erforderlichen Übungen durchzuführen und tue dies auch regelmäßig. Außerdem besuche sie zweimal pro Woche ein Fitness-studio. Die Annahme des MDK, dass Krankengymnastik zur Kräftigung der Schultergürtel/-Nacken-/Rumpfmuskulatur geeignet sei, müsse ebenfalls als falsch bezeichnet werden. Hierzu bedürfe es eines gezielten Trainings. Auch dieses führe die Klägerin bereits durch. Insofern sei durch eine entsprechende zusätzliche Durchführung von weiteren kranken-gymnastischen Behandlungen oder zusätzlichem Muskeltraining keine weitere Verbesserung der Beschwerden zu erwarten.

Hierzu hat die Beklagte abschließend nochmals eine Stellungnahme des MDK vorgelegt. Dieser sieht in seiner Stellungnahme vom 23.06.2008 die zur Thematik vorliegende Literatur als nicht ausreichend an. Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen einer Reduktionsplastik bei Brustvergrößerung zu einer möglichen Beschwerdebesserung sei weiterhin anhand der wissenschaftlichen Literatur nicht eindeutig zu belegen.

Die Klägerin sieht ihre Auffassung durch das Ergebnis der Beweisaufnahme und die Ausführungen der Sachverständigen als bestätigt an und beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 29.06.2006 und des Widerspruchsbescheides vom 25.06.2007 zu verpflichten, die Kosten für eine operative Brustreduktion (Mammareduktionsplastik beiderseits) bei der Klägerin zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf den Inhalt der von ihr zitierten Rechtsprechung und die gutachterlichen Stellungnahmen des MDK.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der vorbereitenden Schiftsätze nebst Anlagen, die den Beteiligten übersandten ärztlichen und gutachterlichen Ausführungen sowie die Verwaltungsakte der Beklagten, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung war, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet.

Die Beklagte war unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide antragsgemäß zu verurteilen. Der geltend gemachte Anspruch auf Übernahme der Kosten einer Mammareduktionsplastik steht der Klägerin gegen die Beklagte nach Auffassung der Kammer zu.

Nach den die Kammer überzeugenden Darlegungen der Sachverständigen Frau Dr. X1 ist diese Maßnahme bei der Klägerin zur Behandlung der bei ihr auf fachorthopädischem Gebiet vorliegenden Erkrankungen erforderlich. Wie die Sachverständige nachvollziehbar dargestellt hat, sind insoweit die vom MDK vor erforderlich gehaltenen konservativen Maßnahmen ausgeschöpft bzw. in Ansehung der bei der Klägerin bestehenden körperlichen Verhältnisse und ihres fortlaufenden Trainings nicht weitergehend indiziert. Die von allen behandelnden Ärzten für erforderlich angesehene operative Behandlung erweist sich insoweit als einzige und letzte kausale Maßnahme zur Beseitigung bzw. Linderung der Schmerzsymptomatik im Bereich der HWS und BWS sowie zur Verhütung weitergehender Veränderungen und Abnutzungsschäden, die wiederum zu vermehrten Schmerzen im Wirbelsäulenbereich führen würden.

Wenn auch evidenz-basierende Studien zur Kausalität zwischen der Größe bzw. dem Gewicht der Brüste und Erkrankungen im Bereich der Wirbelsäule nicht vorliegen, so hat die Sachverständige doch nachvollziehbar dargelegt, dass zumindest die Beschwerdelinderung nach entsprechender Operation retrospektiv beschrieben sei und dies auch für den Fall der Klägerin angenommen werden muss. Die Kammer geht daher mit den behandelnden Ärzten und der Sachverständigen im Gegensatz zu der Auffassung der Beklagten und des MDK davon aus, dass die beantragte brustverkleinernde Operation bei der Klägerin auf Grund der Besonderheiten ihrer körperlichen Verhältnisse und nach Ausschöpfung konservativer Maßnahmen medizinisch indiziert ist. Sie ist geeignet und notwendig, um eine Verschlimmerung der im Wirbelsäulenbereich der Klägerin vorliegenden Krankheiten zu verhüten und die bereits bestehenden Krankheitsbeschwerden zu lindern. Dieser absehbare Erfolg aber ist als Anspruchsvoraussetzung zum Eintritt der Krankenversicherung ausreichend. Die entsprechende Einzelfallwertung, wie sie die Kammer hier vorgenommen hat, ist weder durch die bisherige Rechtsprechung des LSG Nordrhein-Westfalen noch des BSG ausgeschlossen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).