Sozialgericht Aachen S 13 KR 85/08

Sozialgericht Aachen

Urteil vom 17.02.2009 (rechtskräftig)

Sozialgericht Aachen S 13 KR 85/08
 
 

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 11.04.2007 in der Fassung des Widerspruchsbe- scheides vom 30.04.2008 verurteilt, der Klägerin 5.000,00 EUR zu zahlen. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten einer Magenverkleinerungs-(Gastric-Banding-)Operation in Höhe von 5.000,00 EUR.

Die 0000 geborene Klägerin, 168 cm groß, litt seit ihrer Kindheit an erheblichem Übergewicht (Adipositas permagna), Asthma bronchiale und Allergie. Lediglich während einer Zeit des Drogenkonsums (ca. 2000-2002) nahm sie über einen längeren Zeitraum an Gewicht ab. Im Übrigen hatten verschiedene Maßnahmen zur Gewichtsreduktion, z.B. vier Kuren in den Jahren 1986, 1989, 1993 und 1998, sportliche Aktivitäten (Tennis, Leichtathletik, Schwimmen), Trennkostmahlzeiten, Salat-, Suppen- und Kohldiäten sowie die Teilnahme an Programmen wie “Slim fast” oder “Weight Watchers” oder auch Medikamenten- und Psychotherapien keinen oder nur vorübergehenden Erfolg.

Am 03.01.2007 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Magenverkleinerungsoperation. Zu diesem Zeitpunkt wog sie 130 kg; das entspricht einem Body Mass Index (BMI) von 46. Der um eine Stellungnahme gebetene Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) hielt weitere Unterlagen und Angaben der Klägerin für erforderlich. Daraufhin erstellte die Klägerin ein umfangreiches Ernährungstagebuch und beantwortete einen sozialmedizinischen Fragebogen. Vorgelegt wurden weiterhin der Bericht einer Kinderfachklinik über einen vierwöchigen Reha-Aufenthalt im Mai/Juni 1998 sowie Berichte des Chefarztes der chirurgischen Klinik des Medizinischen Zentrum Kreis Aachen Dr. L. vom 01.03.2007, des Hausarztes Dr. T. vom 07.03.2007 und des Neurologen und Psychiaters U. vom 08.03.2007. Dr. L. regte aufgrund der von ihm erhobenen ausführlichen Anamnese und der durchgeführten Untersuchung die Magenbandoperation an und bezifferte die Kosten hierfür auf 5.000,00 EUR. Aufgrund dieser Unterlagen kam der MDK (Dr. Hamacher) in einer Stellungnahme vom 03.04.2007 zum Ergebnis, dass die Operation derzeit nicht empfohlen werden könne; es habe noch keine sechs- bis zwölfmonatige konservative Behandlung nach definierten Qualitätskriterien stattgefunden.

Gestützt hierauf lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 11.04.2007 die Übernahme der Kosten einer Gastric-Bandig-Operation ab.

Dagegen legte die Klägerin am 24.04.2007 Widerspruch ein: Es lägen keine Diätfehler vor, sondern eine krankhafte Fettsucht; konservative Behandlung finde bereits seit 1986 statt. Am 08.05.2007 erfolgte die Magenbandoperation in der chirurgischen Klinik des Medizinischen Zentrums Kreis B … Am 13.07.2007 stellte das Krankenhaus hierfür 5.000,00 EUR in Rechnung, die die Klägerin bezahlte. Nach dem Bericht der Klinik befindet sich die Klägerin seit der Operation unter regelmäßiger ambulanter Kontrolle. Ausweislich einer Gewichtstabelle hat die Klägerin nach der Operation kontinuierlich abgenommen; im April 2008 betrug ihr Gewicht 102,6 kg.

Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 30.04.2008 unter Hinweis auf die fehlende Befürwortung der Operation durch den MDK zurück.

Dagegen hat die Klägerin am 05.06.2008 Klage erhoben. Sie trägt vor, alle Gewichtsreduktionsmaßnahmen vor der Operation hätten trotz ärztlicher Behandlung nicht zum (dauerhaften) Erfolg geführt. Alle ihre Ärzte hätten die Operation befürwortet. Erst die Magenbandoperation habe als letztes Mittel nach Ausschöpfung aller anderen Möglichkeiten für sie die optimale Lösung herbeigeführt.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 11.04.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.04.2008 zu verurteilen, ihr 5.000,00 EUR zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist darauf, dass nach den Leitlinien der Adipositas-Gesellschaft für eine Magenbandoperation strenge Kriterien bestünden; nach Auffassung des MDK seien diese Voraussetzungen nicht erfüllt gewesen. Die Beklagte ist der Auffassung, die Angaben der Klägerin und ihres Hausarztes über die Erfahrungen mit zahlreichen Diäten und Gewichtsreduktionsversuchen vor der Operation seien nicht nachgewiesen. Bei der Gewichtsreduktion in größerem Umfang stünden langfristige Strategien im Vordergrund; solche mehrdimensionalen Behandlungsansätze seien aus den vorliegenden Unterlagen nicht ersichtlich und nicht nachvollziehbar. Die Klägerin habe zwar einzelne Versuche einer Gewichtsreduktion und eines Diäthaltens geschildert; diese hätten sich jedoch auf wenige Wochen beschränkt. Wenn die Klägerin durch die zwischenzeitlich durchgeführte Operation eine Gewichtsreduktion erzielt habe, sei dennoch nicht auszuschließen, dass dies auch bei konsequenter konservativer Behandlung eingetreten wäre.

Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts Befundberichte von dem Operateur Dr. Krüger vom 01.08.2008 und vom Hausarzt Dr. T. vom 19.08. und 04.11.2008 beigezogen. Dr. T. hat zudem diverse Bescheinigungen über seine Fortbildung vorgelegt, u.a. einen 100-stündigen Kurs “Ernährungsmedizin”. Er hat von einer weiteren Gewichtsabnahme der Klägerin bis auf 95 kg im Juli 2008 berichtet. Auf die Arztberichte und Unterlagen wird verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie rechtswidrig sind. Sie hat Anspruch auf Erstattung der Kosten, die ihr durch die am 08.05.2007 durchgeführte Magenverkleinerungsoperation entstanden sind.

Der Kostenerstattungsanspruch ergibt sich aus § 13 Abs. 3 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Die Beklagte hat der Klägerin die durch die Selbstbeschaffung der Operation entstandenen Kosten in Höhe von 5.000,00 EUR zu erstatten, weil sie diese Leistung zu Unrecht abgelehnt hat.

Allgemeine Rechtsgrundlage für die von der Klägerin am 03.01.2007 beantragte und von der Beklagten durch Bescheid vom 11.04.2007 abgelehnte Leistung “Magenbandoperation”, die sich die Klägerin anschließend am 08.05.2007 selbst beschafft hat, ist § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese notwendig ist um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Das bei der Klägerin bestehende erhebliche Übergewicht im Sinne einer Adipositas permagna mit einem BMI von 46 hat Krank- heitswert. In der Medizin besteht Einigkeit darüber, dass bei starkem Übergewicht (im Allgemeinen ab einen BMI größer als 30) eine Behandlung mit dem Ziel der Gewichtsreduktion erforderlich ist, weil anderenfalls ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Begleit- und Folgeerkrankungen besteht (BSG, Urteil vom 19.02.2003 – B 1 KR 1/02 R = BSGE 90, 289 = SozR 4-2500 § 137c Nr. 1 = NZS 2004, 140). Die Leistungspflicht der Krankenversicherung für eine chirurgische Therapie der Adipositas kann nicht mit der Erwägung verneint werden, dass für das Übergewicht das krankhafte Essverhalten der Patientin und nicht eine Funktionsstörung des Magens verantwortlich ist. Es trifft zwar zu, dass die operative Verkleinerung des Magens keine kausale Behandlung darstellt, sondern die Verhaltensstörung der Klägerin durch eine zwangsweise Begrenzung der Nahrungsmenge lediglich indirekt beeinflussen soll. Eine solche mittelbare Therapie wird jedoch vom Leistungsanspruch grundsätzlich mit umfasst, wenn sie ansonsten die in § 2 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 1 SGB V aufgestellten Anforderungen erfüllt, also ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist sowie dem allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entspricht (BSG a.a.O.).

Da das Behandlungsziel auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann, ist zunächst zu prüfen, ob eine vollstationäre chirurgische Behandlung unter Berücksichtigung der Behandlungsalternativen (diätetische Therapie, Bewegungstherapie, medikamentöse Therapie, Psychotherapie) notwendig und wirtschaftlich ist. Sodann muss untersucht werden, ob nach dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion aus medizinischer Sicht die Voraussetzungen für eine chirurgische Intervention gegeben sind. Nach den vorliegenden Leitlinien der Fachgesellschaften (vgl. zuletzt: Evidenzbasierte Leitlinie “Prävention und Therapie der Adipositas”, Version 2007 der Deutschen Adipositas-Gesellschaft u.a.) und den einschlägigen Literaturbeiträgen (vgl. z.B. Der Chirurg, Zeitschrift für alle Gebiete der operativen Medizin, Band 76, Heft 7, Juli 2005 mit zahlreichen Beiträgen zur Adipositaschirurgie, dort insbesondere: Schusdziarra/Hausmann/Erdmann, Adipositaschirurgie: Patientenselektion und Indikationsstellung, S. 653 ff.) kommt die Implantation eines Magenbandes – so das BSG (a.a.O.) – nur als Ultima Ratio und nur bei Patienten in Betracht, die eine Reihe von Bedingungen für eine erfolgreiche Behandlung erfüllen (BMI von 40 oder darüber; Alter über 18 Jahre; erfolglose konservative Therapie unter Anleitung qualifizierter Fachkräfte; Gewährleistung postoperativer Betreuung). Der wichtigste Punkt für die Indikation zum operativen Vorgehen ist eine erfolglose konservative Therapie. Die konservative Adipositastherapie umfasst ein weites Feld von Therapieansätzen, die vom Eigen- versuch mit Außenseitendiäten bis hin zu qualifizierten Abnehmprogrammen unter Anleitung qualifizierter Fachkräfte reichen können. Vor einer operativen Intervention sollten im jeden Fall ein, besser zwei Versuche der Gewichtsreduktion unter Anleitung qualifizierter Fachkräfte und unter Einbeziehung eines multimodalen Therapiekonzeptes durchgeführt worden sein. Ein multimodales Therapiekonzept besteht aus einer kalorienreduzierten Umstellung des individuellen Ernährungsverhaltens. Diese muss kombiniert werden mit einer Steigerung der körperlichen Aktivität und kann letztlich noch durch Medikamente unterstützt werden. Zusätzlich sollte bei diesen Patienten, die ein extremes Übergewicht haben, auch eine psychologische und/oder eine psychiatrische Bewertung der Krankheitssituation erfolgt sein, um endogene Psychosen auszuschließen. Eine qualifizierte, konservative Adipositastherapie sollte präoperativ über mindestens sechs Monate versucht worden sein (Schusdziarra/Hausmann/Erdmann, Der Chirurg 2005, S. 653, 654).

Diese Indikationskriterien hat die Klägerin vor der Operation und zum Zeitpunkt der Ablehnungsentscheidung der Beklagten erfüllt. Die Klägerin war im April 2007 24 Jahre alt und wog bei einer Körpergröße von 168 cm 130 kg; dies entsprach einem BMI von 46. Das erhebliche Übergewicht basierte auf einer krankhaften Fettsucht, die bereits seit ihrer Kindheit bestand. Sie hatte deshalb bereits vier mehrwöchige Reha-Maßnahmen absolviert, zuletzt 1998 in der Kinderfachklinik “Satteldüne” in Nebel/Amrum. Sie hat während dieser Maßnahmen an qualifizierten Abnehmprogrammen teilgenommen, zu denen kalorienreduzierte Mischkost, körperliches Bewegungstraining und Schulung unter psychologischer und ärztlicher Leitung gehörten. Dies ist belegt durch den Bericht der Kinderfachklinik “Satteldüne” vom 04.07.1998. Seit 2003 erfuhr die Klägerin eine regel- mäßige Ernährungsberatung. Diese zielte auf das Reduzieren des Fettverzehrens; die Fettzunahme wurde auf 60 g pro Tag reduziert. Desweiteren wurde versucht, die Energiezufuhr auf 800 Kalorien pro Tag zu begrenzen; neben der Fettzufuhr wurde auch der Verzehr von Kohlenhydraten und Eiweiß reduziert; durch pflanzliche Produkte sollte die Senkung der Energiedichte bei Erhalt der Sättigung erreicht werden. Im Rahmen der Ernährungsberatung versuchte die Klägerin auch ein Formulaprodukt. Eine ergänzende medikamentöse Therapie mit Sibutramin und Xenical war bei der Klägerin wegen ihrer allergischen Disposition und zunehmenden reaktiven Depressionen nicht möglich. Durch die Einnahme von Fluoxetin, welches in der Regel zur Gewichtsverlust führt, konnte das Gewicht nur bedingt gehalten werden. Die Klägerin hat über die Kuren hinaus an einer dreijährigen Ernährungsberatung teilgenommen. Diese erfolgte unter ärztlicher Aufsicht.

Dies alles ergibt sich aus den ausführlichen Berichten des Hausarztes Dr. T. vom 19.08. und 04.11.2008. Dr. T. ist Arzt mit ernährungsmedizinischer Qualifikation, wie sie für die Begleitung eines konservativen Gewichtsabnahmeprogramms auch in den Leitlinien “Prävention und Therapie der Adipositas” (Version 2007) der Deutschen Adipositas-Gesellschaft gefordert wird. Dr. T. hat erfolgreich an einem 100-stündigen Kurs “Ernährungsmedizin” sowie an Fortbildungsveranstaltungen zum Thema Ernährung und Bewegung teilgenommen. Er führt die Zusatzbezeichnung “Sportmedizin”. Dr. T. hat überzeugend dargelegt, dass die beschriebenen und auch andere konservative Gewichtsreduktionsversuche bei der Klägerin zu keinem dauerhaften Erfolg geführt haben. Dies bezieht auch die zahlreichen diätetischen Abnehmversuche sowie die Teilnahme an Programmen wie “Slim Fast” oder “Weight Watchers” ein. Schließlich ist bei der Klägerin auch eine psychologisch/psychiatrische Bewertung ihrer Krankheitssituation erfolgt. Der Facharzt für Psychiatrie U. hat in einem fachärztlichen Befundbericht vom 08.03.2007 für die Beklagte dargelegt, dass er der Anlage eines Magenbandes positiv gegenüber stehe. Eine endogene Psychose hat er bei der Klägerin nicht feststellen können. Das Medizinische Zentrum Kreis Aachen gewährleistet eine regelmäßige postoperative ambulante Kontrolle. Nach alledem erfüllte die Klägerin alle Bedingungen für eine erfolgreiche Behandlung. Soweit der MDK daran Zweifel hegt, insbesondere weil es an einer sechs bis zwölfmonatigen Therapiedauer und einer systematischen Datendokumentation fehlt (wie sie ebenfalls in den Leitlinien “Prävention und Therapie der Adipositas” gefordert werden), überspannt er nach Auffassung der Kammer die Anforderungen für eine Magenbandoperation, selbst wenn diese nur als Ultima Ratio zu Behandlung der Adipositas in Betracht kommt. Diese Anforderungen werden erstmals in der Version 2007 der genannten Leitlinien erwähnt. In früheren Leitlinien der Deutschen Adipositas-Gesellschaft und auch in der bereits zitierten medizinischen Fachliteratur werden diese Indikationskriterien nicht gefordert. Nimmt man die zum Teil mehrwöchigen Gewichtsreduktionskuren und die langjährige Ernährungsberatung mit den von Dr. T. veranlassten und überwachten Maßnahmen zusammen, so erfüllt die Klägerin aber auch das Kriterium der Therapiedauer von sechs bis zwölf Monaten. Was die systematische Datendokumentation anbelangt, genügt der Kammer die ausführliche Darlegung des Behandlungskonzepts von Dr. T., um zu der Überzeugung zu gelangen, dass die Anfang 2007 von der Klägerin beantragte Magenbandoperation ausreichend, zweckmäßig und notwendig im Sinne der §§ 2, 12 SGB V ist. Die Ablehnung dieser Operation durch den Bescheid vom 11.04.2007 erfolgte daher “zu Unrecht” im Sinne von § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V. Die Klägerin war berechtigt, sich die ihr zustehende Leistung selbst zu beschaffen. Die ihr dadurch entstanden Kosten (vgl. Rechnung des Krankenhauses vom 13.07.2007) sind von der Beklagten zu erstatten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.