Sozialgericht Duisburg S 21 KR 144/89

Sozialgericht Duisburg

Urteil vom 20.11.1989 (rechtskräftig)

  • Sozialgericht Duisburg S 21 KR 144/89

 
 

Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten des stationären Krankenhausaufenthaltes der Beigeladenen in der Zeit vom 14.08.1987 bis 15.08.1987 zu übernehmen. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin werden dem Grunde nach der Beklagten auferlegt. Im übrigen sind keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Übernahme stationärer Behandlungskosten.

Der Beigeladene wurde am 14.08.1987 gegen 14.50 Uhr unter Alkoholeinfluß bei der Klägerin eingeliefert. Am 15. August 1987 entfernte er sich heimlich von dort. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war er nicht gehfähig und zeitlich und örtlich nicht orientiert. Er äußerte suicidale Gedanken, weshalb eine kontrollierte Ausnüchterung erfolgte.

Die Klägerin forderte eine Kostengarantie bei der Beklagten an, die den Vorgang dem Vertrauensärztlichen Dienst zuleitete. Dieser vertrat die Ansicht, im Vordergrund habe eine Ausnüchterung gestanden.

Mit Bescheid vom 25.05.1988 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme gegenüber dem Versicherten ab. Zur Begründung führte sie aus, es sei keine stationäre Behandlung, sondern eine Ausnüchterung erfolgt. Eine Durchschrift dieses Bescheides wurde der Klägerin zur Kenntnis zugeleitet.

Am 23.05.1989 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie trägt vor, es sei eine stationäre Behandlung erfolgt und auch nötig gewesen.

Das Gericht hat durch Beschluss vom 16.06.1989 den Versicherten beigeladen, der sich am Verfahren nicht beteiligt hat.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, die Kosten des stationären Krankenhausaufenthaltes des Beigeladenen in der Zeit vom 14.08.1987 bis 15.08.1987 zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beigeladene stellte keinen eigenen Sachantrag.

Zufolge der Angaben des Beigeladenen im Termin zur mündlichen Verhandlung trank er am 14.08.1987 sehr viel Alkohol aus Kummer, weil sich seine Freundin von ihm getrennt hatte. Diese habe ihn ins Krankenhaus gebracht, weil er Selbstmordabsichten geäußert und schon einige Jahre vorher einen Selbstmordversuch unternommen habe, der der Freundin bekannt gewesen sei. Er – der Beigeladene – habe keine Erinnerung an die Vorgänge, die ihm nur aus den Erzählungen seiner Freundin bekannt seien.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Der Inhalt dieser Akten ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage, mit der die Klägerin die Übernahme der stationären Behandlungskosten des Beigeladenen in der Zeit vom 14.08.1987 bis 15.08.1987 begehrt, ist als reine Leistungsklage zulässig nach § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG)

Die zulässige Klage ist auch begründet, da der Krankenhausaufenthalt des Beigeladenen in der Zeit vom 14.08.1987 bis 15.08.1987 notwendig gewesen ist. Folglich ist die Beklagte verpflichtet, diese Kosten zu übernehmen.

Nach § 184 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) in der bis 31.12.2988 gültigen Fassung (a.F.) wird Krankenhauspflege zeitlich unbegrenzt gewährt, wenn die Aufnahme in ein Krankenhaus erforderlich ist, um die Krankheit zu erkennen oder zu behandeln oder um Krankheitsbeschwerden zu lindern.

Diese Behandlungsziele sind nach Auffassung der Kammer beim Beigeladenen in der Zeit vom 14.08.1987 bis 15.08.1987 verfolgt worden, weshalb sie den Krankenhausaufenthalt als notwendig ansieht.

Es mag dahinstehen, ob schon ein Alkoholrausch, der zu Geh- und Stehunfähigkeit und zeitlicher und örtlicher Desorientiertheit führt, eine Krankenheit ist, die die Notwendigkeit stationärer Krankenhauspflege bedingt. Gegen diese Einschätzung spricht die Tatsache, dass in E bei der vorhandenen Gaststättenzahl jeden Abend ungefähr 250 Personen dem Alkohol so sehr zusprechen, daß sie nicht nur leicht angetrunken und nicht mehr ganz sicher auf den Beinen sind, sondern einen Zustand erreichen, der dem des Beigeladenen am Abend des 14.08.1987 entspricht. Die Mehrzahl dieser Personen wird aber nicht in ein Krankenhaus eingeliefert, sie gelangt vielmehr ins eigene Bett, wo der Rauschzustand ohne jede ärztliche Hilfe nach einigen Stunden Schlaf von selbst abzuklingen pflegt (sogenannter normaler Alkoholabbau nach Zeitablauf). Dies spricht zumindest nicht besonders stark für die Notwendigkeit stationärer Krankenhauspflege. Auch der Beigeladene vermochte am 15.08.1987 keine Gründe für seine Anwesenheit im Krankenhaus zu erkennen.

Auf der anderen Seite sind der Kammer aber aus der persönlichen Erfahrung Fälle bekannt, in denen ein hilfloser Zustand auf getrunkenen Alkohol zurückgeführt worden ist, während tatsächlich eine ganz andere – lebensbedrohliche – Erkrankung – bei einer Fallgestaltung ein Schlaganfall – vorgelegen hat. Im Hinblick auf diese Erfahrungen hält es die Kammer für notwendig, zunächst sicher ärztlich abzuklären, ob eine desorientierte Person wirklich nur betrunken ist. Da insoweit vielfach eine ambulante ärztliche Untersuchung nicht ausreicht, um jedes Risiko und jeden Verdacht auszuräumen, neigt die Kammer dazu, in allen Fällen stärkerer Alkoholgenusses die Notwendigkeit einer stationären Überwachung zu bejahen, ohne diese Frage hier aber abschließend klären zu müssen.

Nach der Überzeugung der Kammer ist es im vorliegenden Fall erwiesen, daß der Beigeladene einer stationären Krankenhausbehandlung bedurfte. Denn der Beigeladene hatte nach seinen Angaben vor Jahren schon einmal einen Selbstmordversuch begangen, wobei Alkohol keine Rolle gespielt habe. Ein versuchter Selbstmord ist in aller Regel ein Hinweis auf eine depressive Symptomatik, die jederzeit wieder aufflackern bzw. wieder in ein akutes Stadium übergehen kann, wobei die Trennung von einem Partner durchaus ein geeigneter Auslöser ist, wie dem Gericht aus beruflicher und außerberuflicher Erfahrung bekannt ist.

Geäußerte Selbstmordabsichten unter Alkoholeinfluß, die durch das vorliegende Krankenblatt belegt sind, treten zwar im Zusammenhang mit Alkoholabusus über einen längeren Zeitraum nicht gerade selten auf, weil bei einigen Personen Alkohol nicht zu einem Stimmungshoch, sondern zu einem Stimmungstief führt (sogenannte weinerliche-depressive Verhaltensweise). Zumindest im Regelfall klingt diese Stimmung jedoch mit Absinken des Alkoholspiegels wieder ab, ist also nicht als echt krankhaft zu bezeichnen, so daß nervenärztliche Hilfe notwendig wäre. Genau dieser Verlauf ist auch beim Beigeladenen im Krankenhaus beobachtet worden.

Auf der anderen Seite ist aber zu berücksichtigen, daß ein bereits einmal durchgeführter Selbstmordversuch für jeden Arzt ein Alarmzeichen ist, das ihn dazu veranlassen muß und veranlasst, erneut geäußerte Selbstmordabsichten sehr ernst zu nehmen, insbesondere in einer privaten Problemsituation. Insoweit kann allenfalls ein Arzt, der den Patienten sehr genau kennt, einigermaßen sicher abschätzen, ob die Drohungen ernst zu nehmen sind oder nicht. In dieser Situation ist ein Krankenhausarzt in aller Regel nicht. Denn die Mehrzahl der Patienten – wie auch der Beigeladene – sind im Krankenhaus nicht bereits aus früheren Aufenthalten bekannt.

Muß der Krankenhausarzt auf Grund eines Selbstmordversuches in der Anamnese aber auch die Möglichkeit ernsthaft in Betracht ziehen, daß unter Alkoholeinfluß geäußerte Selbstmordgedanken bei familiärer Problemsituation nicht nur auf die übliche weinerlich-depressive Stimmung zurückgeführen sind, sondern vielmehr Anzeichen für eine wieder akut gewordene echte depressive Symptomatik sind, so ist er gehalten, seine Diagnose auf eine Verlaufsbeobachtung zu stützen. Die Überstellung des Patienten an die Polizei zum Zwecke der Verwahrung in einer sogenannten Ausnüchterungszelle ist in diesem Fall kein gangbarer Weg. Denn die Symptome eines depressiven Beschwerdebildes vermag ein Laie nicht zu erkennen, zumal gerade Personen, die selbstmordgefährdet sind, vielfach über beträchtliche Fähigkeiten zum Dissimulieren verfügen, wie dem Gericht aus eigener Erfahrung genau bekannt ist.

Die Erwägung, daß hier möglicherweise eine sehr ernsthafte – psychische – Erkrankung im Raum stehen konnte, hat nach Ansicht der Kammer erkennbar das Handeln der Krankenhausärzte motiviert. Zwar ist kein Beweis darüber erhoben worden, ob der Beigeladene in der Vergangenheit bereits einen Selbstmordversuch unternommen hatte und ob seine Freundin entsprechende Angaben gemacht hat, als sie ihn ins Krankenhaus brachte. Auch in den Krankenunterlagen taucht dieser Umstand als Fremdangabe nicht auf. Allerdings widerspricht das Vorbringen der Klägerin den Angaben des Beigeladenen auch nicht direkt. Denn von geäußerten Selbstmordabsichten ist auch in den Krankenhausberichten die Rede.

Die Kammer ist aber der Überzeugung, daß die Angaben des Beigeladenen im Termin zur mündlichen Verhandlung wahr sein müssen. Denn er wäre nach Ansicht der Kammer intellektuell gar nicht in der Lage, sich einen solchen Sachverhalt auszudenken. Von daher hält die Kammer eine förmliche Beweiserhebung für unnötig, da aus ihr ohnehin keine wesentlichen neuen Erkenntnisse mehr folgen können und die in Rede stehenden Kosten – stationäre Krankenhausbehandlung für lediglich zwei Tage – in auffälligem Mißverhältnis zu den durch eine Vertagung und weitere Beweisaufnahme entstehenden Kosten für die Allgemeinheit ständen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

In bezug auf die Berufung gilt § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG, da hier um wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von unter dreizehn Wochen gestritten wird.