Geriatrie: Rechtsprechung und Prüfpraxis

Geriatrie: PatientinDie klinische Geriatrie erfreut sich einer stark zunehmenden Popularität: In den vergangenen 10 Jahren hat sich die Anzahl kodierte frührehabilitative Komplexbehandlungen in etwa verdoppelt! (1)

Gleichzeitig ist kaum ein Leistungsbereich so kompliziert in der Abrechnung. Die Interpretation der OPS 8-550.- ist scheinbar so mehrdeutig, dass sich eine Reihe von Interpreten hervor tut: Bundessozialgericht (BSG), MDK, der Bundesverband Geriatrie (BVG). Sie alle bemühen sich, uns den richtigen Umgang mit der Geriatrie zu verdeutlichen.

Wie solche Erläuterungen viele neue Fragen auslösen können und die Lage oft weiter verkomplizieren, soll Ihnen diese Übersicht näher bringen…

Geriatrie und das Alter

Geriatrie ist “Altersmedizin”. Daher leuchtet eine Altersgrenze für Patienten, die einer geriatrischen Komplexbehandlung würdig sind, auf den ersten Blick ein. Allerdings wird eine einfache Trennlinie von vielen Autoren abgelehnt.

“Geriatrische Medizin ist nicht spezifisch altersdefiniert, sie behandelt jedoch die typische Morbidität älterer Patienten. Die meisten Patienten sind über 65 Lebensjahre alt. Diejenigen Gesundheitsprobleme, die durch Geriatrie als eine Spezialdisziplin am besten angegangen werden können, werden in der Altersklasse über 80-Jähriger viel häufiger.“(2)

Aus dieser Erkenntnis (die sinngemäß auch für die Pädiatrie gilt) macht das BSG leider etwas komplett anderes:

Eine altersunabhängige Zuordnung von Patienten zur Geriatrie … ist ausgeschlossen. …
…ist für die geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung neben der typischen Multimorbidität regelmäßig ein Alter von 70 Jahren zu fordern, zumindest aber ein Alter von 60 Jahren in Verbindung mit plausibilisierenden Angaben. (B 1 KR 21/14 R vom 23.06.2015)

Das hohe Gericht vermag zu entscheiden, wo die Fachwelt eine Ausnahmeregelung offenlassen möchte. Sechzig Jahre alt muss der Patient mindestens sein, besser siebzig. Gut oder schlecht? Aus der Sicht des Geriaters sicherlich eine anmaßende Rechtsprechung.

Allerdings hat diese Regel einen großen Vorteil: Sie ist eindeutig. Die Fallprüfung ist an diesem Punkt einfacher geworden.

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Die OPS fordert ein standardisiertes geriatrisches Assessment zu Beginn und am Ende der Behandlung. Wann das genau ist, bleibt offen.

Bis 2015 hat das “Kompetenz-Centrum Geriatrie” des MDK in seinen Auslegungshinweisen das als innerhalb von 4 Tagen nach Beginn, resp. vor Ende der Behandlung interpretiert. Darüber bestand Konsens mit der Fachgesellschaft. Für 2016 wird diese Grenze angeschärft: Es sollen nunmehr höchstens 2 Tage sein.

Der Bundesverband Geriatrie wehrt sich in seine DRG-Newsletter (1/2016) dagegen: Diese Änderung sei nicht abgestimmt gewesen. Aus der Sicht des BVG gelten weiterhin 4 Tage.

In der Praxis sind zwei (Arbeits-)Tage in der Regel gut einzuhalten. Die frührehabilitative Behandlung fängt mit dem Tag des ersten dokumentierten Assessments an, darüber sind sich MDK und BVG einig.

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Die richtige Indikation für eine Früh-Reha

Die Rechnungsprüfungen bei einer Frühreha befassen sich oft mit der Frage der Indikation. Zunächst muss eine Indikation die akutstationäre Behandlung vorliegen (akute Erkrankung, intravenöse Therapie, Überwachungspflicht usw.).

Darüber hinaus wird dann gerne die Frage aufgeworfen, ob eine Frühreha überhaupt sinnvoll / indiziert war. Seit 2016 benennt der MDK das in seinen Auslegungshinweisen so: „OPS-Prüfungen umfassen formale Leistungsinhalte und die Frührehabilitationsindikation.“

Da dient sich die Frage an: Welche Indikation ist das genau?

Offizielle Kriterien für die Frührehabilitationsindikation existieren nicht. Daher ist es nicht nachvollziehbar, wie der MDK das abprüfen will, wirft der Bundesverband Geriatrie ein. Andererseits hat die Bundesarbeitsgemeinschaft der Klinisch-Geriatrischen Einrichtungen e.V. “Abgrenzungskriterien” für eben diesen Zweck publiziert (den Stand 2006 finden Sie hier).

Die Prüfpraxis des MDK ist hier kritisch zu verfolgen; der BVG freut sich über Rückmeldungen hierzu.

Wöchentliche Teambesprechung

Die Teambesprechung und ihre Dokumentation wird von den Beteiligten sehr unterschiedlich gesehen. Der MDK pocht seit Jahren auf eine Dokumentation, die die Behandlung plausibilisieren soll. eine Art Rechtfertigung also.

Zu dieser Frage hat das SG Stuttgart (Urteil vom 24.10.2012, S 10 KR 6999/10) klar gestellt, dass die Dokumentation nicht zur Beseitigung von kassenseitigem Misstrauen dient. Es geht vielmehr darum, die Behandlung nachvollziehbar zu machen. Siehe dazu unseren ausführlichen Artikel.

Der BVG empfiehlt für Teambesprechungen u.a.: (3)

  • Ein fester Tag pro Woche reicht; Die erste Teamsitzung muss nicht am 1. Tag der Behandlung stattfinden.
  • Teilnahme von den Berufsgruppen: Ärztlicher Dienst, Pflegedienst, Therapeuten.
  • Anwesenheitslisten und genaue Dokumentation von Wortbeiträgen sind nicht gefordert. Das Handzeichen der Sitzungsleitung reicht.
  • Die ärztliche Behandlungsleitung (Facharzt mit Zusatzweiterbildung oder Schwerpunktbezeichnung, nicht zwingend der Chefarzt der Abteilung!) muss beteiligt sein.

§ 301: Leistungen zur medizinischen Rehabilitation

In einer Reihe von Urteilen aus 2014 (u. a. B 1 KR 25/13 R und B 1 KR 26/13 R) hat das BSG sich mit den Voraussetzungen für die geriatrische Komplexbehandlung auseinandergesetzt. Da die Einwände der Kasse eigentlich verfristet waren, musste ein Grund vorliegen, warum die 6-Wochen-Frist hier nicht anzuwenden war.

Weil die Klinik keine Angaben über “Leistungen zur medizinischen Rehabilitation” gemacht hatte (eine Forderung aus § 301 SGB V), sei die Rechnung mangelhaft, so das BSG (siehe unseren ausführlichen Artikel dazu).

Obwohl die akutgeriatrische Behandlung keine Rehabilitation ist, sondern höchstens eine Frührehabilitation, machen manche Kassen jetzt einen Sport daraus, Angaben einzufordern. Manche möchten genaue Therapiepläne sehen, manche Diätpläne. Es gibt sogar Kassen, die drohen, alte Rechnungen aufzurechnen, wenn solche Unterlagen nicht bis zu vier Jahre rückwirkend nachgereicht werden.

Sinnvoll oder nachvollziehbar sind diese Wünsche nicht. Man macht es, weil man es kann…

Die Krankenhäuser müssen sich hierzu individuell positionieren: Ein partnerschaftlicher Umgang ist mit Nachforderungen über vier Jahre wohl kaum vereinbar. Hier ist ggf. eine Sozialgerichtsklage empfehlenswert. Bei weniger drastischen Wünschen ist zu überlegen, was man zu liefern bereit ist, um unerfreuliche Eskalationen zu vermeiden.

Der BVG, die DKG und der BDPK haben sich an das Gesundheitsministerium gewandt. Man hofft, dass eine Änderung des § 301 uns aus dieser Misere befreit. Immerhin hat das Ministerium dem BSG schon öfters durch Gesetzesänderungen das Wasser abgegraben (siehe unseren Artikel dazu).

Anwesenheit eines Geriaters: 24/7?

Eine andere Konsequenz aus den oben genannten BSG-Urteilen ist die notwendige Anwesenheit der ärztlichen Behandlungsleitung (Facharzt mit Zusatzweiterbildung oder Schwerpunktbezeichnung).

Der eigentliche Streitgrund war der Urlaub der einzigen Ärztin mit der entsprechenden Qualifikation. Das Bundessozialgericht hat klar gestellt, dass eine Behandlung, die nicht von einem qualifizierten Arzt geleitet wird, nicht zur Kodierung der 8-550.- berechtigt. Eigentlich nachvollziehbar.

Dieses Urteil wollen manche Kassen so verstehen, dass 24 Stunden pro Tag und 7 Tage pro Woche ein Geriater vorgehalten werden müsse.

Gegen solche Auswüchse ist entschieden vorzugehen. Der Wortlaut der genannten Urteile gibt eine solche Interpretation nicht her. Eine Klage müsste mit recht großer Sicherheit für ein Krankenhaus zum Erfolg führen.

Anwesenheit einer Pflegefachkraft mit Zusatz-Qualifikation

Ab und zu wird die Anwesenheits-Forderung sogar auf Pflegekräfte mit Zusatz-Qualifikation erweitert: Auch diese sollen Tag und Nacht verfügbar sein.

Mindestens eine Pflegefachkraft des geriatrischen Teams muss eine strukturierte curriculare geriatriespezifische Zusatzqualifikation im Umfang von mindestens 180 Stunden sowie eine mindestens 6-monatige Erfahrung in einer geriatrischen Einrichtung nachweisen.
Text der OPS 8-550.-

Weder OPS, noch Rechtsprechung des BSG rechtfertigen Anforderungen an die Verfügbarkeit geriatrisch qualifizierter Pflegekräfte. Lassen Sie sich hier keinesfalls ins Bockshorn jagen!

(1) Quelle: GBA des Bundes
(2) European Union Geriatric Medicine Society zitiert nach Wikipedia
(3) Bundesverband Geriatrie: Auslegungshinweise des BV Geriatrie zum OPS8-550 (2016)

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