Wann ist eine Behandlung stationär? Neuste Rechtsprechung.

© Medcontroller GmbH

Ein schwer verletzter Patient kommt in die Notaufnahme eines grundversorgenden Krankenhauses. Während der Hubschraubertransport zur Uniklinik organisiert wird, wird der Patient intubiert und beatmet, bekommt Volumen- und Katecholamintherapie, um den Kreislauf zu stabilisieren. Eine heftig blutende Platzwunde wird chirurgisch versorgt. Nach 90 Minuten ist der Patient auf dem Weg in die Uniklinik. Ist dieser Fall stationär abzurechnen, oder nicht?

Die neuste Rechtsprechung des BSG hat hier für erhebliche Unsicherheit gesorgt. Außerdem gibt es da noch so Dinge wie “das spezifische Versorgungssystem des Krankenhauses” und “mindestens 24 Stunden“. Wir versuchen das Dickicht an Regelungen und Gerichtsurteilen etwas zu lichten und zu inventarisieren.

Am Anfang steht § 39 SGB V

§39 SGB V ist die zentrale Norm, wenn es um die Definition von Krankenhausbehandlung geht (§ 40 SGB V beschreibt übrigens die Reha-Behandlung). Versicherte haben Anspruch auf vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus, wenn die Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann. Die Frage, die hier nicht beantwortet wird: “Was muss geschehen, damit eine Behandlung als vollstationär gelten darf?”

“Eingliederung” als Zauberwort

Selbständige Arbeit als Kodierfachkraft / MD-Managerin / Beraterin.

Klingt das für dich nach einer guten Idee?
Dann ist unser Partnerprogramm für dich gemacht!

Ein bisschen versteckt finden wir eine weitere Beschreibung des Gesetzgebers: In der amtlichen Begründung zum Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) ist zur Abgrenzung einer akutstationären von teilstationärer und ambulanter Behandlung definiert: „die physische und organisatorische Eingliederung des Patienten in das spezifische Versorgungssystem des Krankenhauses“ (BT-Drucksache 12/3608, S. 82 zu § 39 SGB V). Diesen Terminus lesen wir oft in Gutachten des MD. Allerdings ist der Text kaum als Definition brauchbar: Was ist denn genau das „spezifische Versorgungssystem des Krankenhauses“, und was muss passieren, damit ein Patient dort eingegliedert ist?

Spezielle Fragen zur Kodierung und im MD-Management ohne aufwendige Recherche beantworten?
Unser online Praxis-Handbuch!

Grundsatzurteile des 3. Senats

Erstmals 2004 hat der Senat ausführlich und gut nachvollziehbar beschrieben, wann und wie eine Eingliederung im Versorgungssystem Krankenhaus vollzogen wird (BSG, Urteil vom 04.03.2004, Az.: B 3 KR 4/03 R.). Hier etwas verkürzt dargestellt: Ein Patient ist akutstationär aufgenommen, wenn er im Krankenhaus verbleibt und der ärztliche Behandlungsplan eine Aufnahmedauer von mindestens einem Tag und einer Nacht vorsieht.

Dabei werden einige wichtige Anmerkungen gemacht, die diese Regel weiter präzisieren (und noch heute unvermindert Gültigkeit haben!):

  • Wenn eine Krankenhausbehandlung ambulant begonnen wird und wegen unerwarteter Probleme/Komplikationen in eine stationäre Behandlung überführt wird, ist die Behandlung insgesamt als akutstationär zu bezeichnen.
  • Wenn eine Behandlung über Nacht geplant wird, aber auf Betreiben des Patienten früher abgebrochen wird, handelt es sich trotzdem um eine stationäre Behandlung.
  • Der Unterschied zwischen einer ambulanten und einer teilstationären Behandlung liegt darin, dass eine teilstationäre Behandlung nur tagsüber stattfindet, aber an mehreren Tagen hintereinander geplant ist.
  • Das Gericht erwähnt die regelmäßige Dialyse (mehrmals pro Woche) besonders: Diese Behandlung sei wohl als ambulante Behandlung zu betrachten.

Auch wenn diese Definition schlüssig klingt, es gibt noch viele Fragen, die offen bleiben. In einem weiteren Urteil hat der 3. Senat einige davon aufgegriffen (BSG, Urteil vom 19.09.2013, Az.: B 3 KR 34/12 R.):

  1. Die Aufnahme in einem Krankenhaus setzt einen Behandlungsplan voraus, der die Behandlung über mindestens einen Tag und eine Nacht vorsieht.
  2. Das bedeutet in der Regel die Einweisung auf eine bestimmte Station, die Zuweisung eines Bettes, das Erstellen entsprechender Aufnahmeunterlagen usw.
  3. Eine einmal erfolgte physische und organisatorische Eingliederung des Patienten in das spezifische Krankenhausversorgungssystem kann nicht rückwirkend dadurch entfallen, dass der Patient z. B. gegen ärztlichen Rat auf eigenes Betreiben das Krankenhaus noch am selben Tag wieder verlässt.

Kurze Behandlungen und Intensität

Der erste Senat BSG hat vor kurzem den Ball aufgenommen und weitere Sachverhalte beurteilt. Leider wurde es da etwas verwirrend. In aller Kürze:

  1. Erst urteilt der Senat im so genannten “Schockraumurteil” (BSG, Urteil vom 18.05.2021, Az.: B 1 KR 11/20 R.): Es lag eine akute Notfallbehandlung im Schockraum des Krankenhauses mit Intubation und maschineller Beatmung wegen einer subduralen Blutung zugrunde. Der Patient wurde nach wenigen Stunden in ein anderes Krankenhaus verlegt, wo die neurochirurgische Versorgung erfolgte. Laut dem ersten Senat handelte es sich hier um eine ambulante Aufnahmeuntersuchung. Eine physische und organisatorische Eingliederung des Patienten in das spezifische Versorgungssystem des Krankenhauses (s. oben) sei nicht erfolgt. Die Krankenhauswelt stand Kopf, es wurde schon über das Ende der Notfallversorgung geunkt.
  2. Dann nimmt der Senat das Urteil wieder ein bisschen zurück und kommt zu einem anderen Schluss (BSG, Urteil vom 29.08.2023, Az.: B 1 KR 15/22 R.): Für eine konkludente stationäre Aufnahme reicht auch eine kurzzeitige Notfallbehandlung. Die konkludente stationäre Aufnahme eines Versicherten liegt bei einer kurzzeitigen Notfallbehandlung im ersten Krankenhaus und zeitnaher Verlegung in ein anderes Krankenhaus dann vor, wenn der Einsatz der krankenhausspezifischen personellen und sächlichen Ressourcen im ersten Krankenhaus eine hohe Intensität aufweist. Ab wann die Intensität genau “hoch” ist, darüber kann man wieder diskutieren. Der in Rede stehende Fall spielte sich übrigens auf einer Stroke-Unit ab und beinhaltete eine systemische Thrombolyse.

Ich gehe davon aus, dass der Notfall, der am Anfang dieses Artikels beschrieben wurde, nun dann doch wieder eindeutig stationär sein müsste.

Am 21.03.2024 urteilte das BSG über die Notwendigkeit einer stationären Behandlung für eine äußere Wendung in den letzten Schwangerschaftswochen (BSG, Urteil vom 21.03.2024, Az.: B 1 KR 37/22 R). Die Patientin war ungefähr 4 Stunden im Kreißsaal und wurde nicht auf eine Pflegestation aufgenommen.  Das BSG bestätigt hier, dass dennoch eine stationäre Behandlung vorlag, weil die besonderen Mittel des Krankenhauses zwar nur für einen kurzen Zeitraum, aber in erheblichem Umfang in Anspruch genommen wurden. Gemeint war die OP, die für eine mögliche Not-Sectio bereit gehalten (aber nicht gebraucht) wurde.

“Besondere Mittel des Krankenhauses”

Vielleicht ist es Ihnen nicht aufgefallen, aber im letzten Absatz ist plötzlich von den besonderen Mitteln eines Krankenhauses die Rede. Die waren bis jetzt noch nicht aufgetaucht, also wo kommen sie her? Der Terminus steht nicht im Sozialgesetz, sondern in einem Beschluss des großen Senats des BSG (BSG, Beschluss vom 25.09.2007, GS 1/06): „Was das Erfordernis der Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit anbelangt, will der 1. Senat allein auf den Gesundheitszustand des Patienten abstellen und danach entscheiden, ob dieser, losgelöst von sonstigen persönlichen Umständen, eine stationäre Versorgung mit den Mitteln eines Krankenhauses erfordert.“ Der erste Senat bekam seinerzeit Recht und setzte sich damit gegen die Sicht des dritten Senats durch (die damalige Präsidenten mochten sich nicht besonders). Hier ist von den Mitteln des Krankenhauses die Rede, die objektiv und nachvollziehbar erforderlich sein müssen. Die Geburtsstunde der Fehlbelegung.

Was es sonst noch so gibt

Einige weitere Urteile verdienen noch eine besondere Erwähnung:

  • Das LSG Schleswig-Holstein urteilte rechtskräftig, dass eine Behandlung, die nicht über Nacht geplant war und auch keine hohe Behandlungsintensität aufwies, trotzdem stationär sein kann (LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 24.03.2011, Az.: L 5 KR 50/10). Eine Patienten mit AML hatte Petechien nach Bluttransfusion. Der Verdacht auf eine schwere Thrombopenie durch Alloantikörper stand im Raum. Das Gericht erkannte, dass eine “gewöhnliche” Laboruntersuchung bei großer Dringlichkeit auch stationär durchgeführt werden kann. Außerdem erforderte die Schwere der Erkrankung die unmittelbare Verfügbarkeit von weiteren Spezialisten.
  •  Die Aufnahme einer Begleitperson ist keine stationäre Aufnahme (BSG, Urteil vom 29.06.2023, Az.: B 1 KR 20/22 R).

Online Schulungen Kodierung für Profis und Anfänger?
Schauen Sie sich unsere E-Learning-Angebote an!