Missbräuchliche Sachverständigengutachten
Der Kostensenat des LSG Niedersachsen-Bremen hat am 08.03.2021 einen dramatischen Beschluss gefasst (L 7 KO 505/17). Die Sozialrechtsprechung in Fragen der Krankenhausabrechnung droht aus dem Gleis geworfen zu werden.
Sachverständigen im DRG-Bereich (wie der Verfasser einer ist) sollen Fragen zur korrekten Kodierung nicht mehr beantworten dürfen. Tun sie es doch, kann das Sachverständigengutachten als “rechtsmissbräuchlich” bewertet werden. Die Vergütung für eine solche Arbeit: 0,00 Euro! Was jetzt?
Sachverständigengutachten und Krankenhausleistungen
Die korrekte Abrechnung von Krankenhausleistungen ist bekanntlich nicht immer selbsterklärend. Ein jährlich wechselndes Sammelsurium von gesetzlichen Normen, Richtlinien, Katalogen, Beschlüssen, Vereinbarungen und Verträgen möchte berücksichtigt werden.
Einige Zehntausende Menschen in Deutschland (viele davon Leser dieses Blogs) sind beruflich tagtäglich mit der Materie befasst und kennen sich aus. Einige Hunderte befassen sich in besonders intensiver Art mit der Thematik; kennen sie “in- und auswendig”. Letztere sind häufig als Sachverständige in Sozialgerichtsverfahren gefragt.
Die Gerichte haben in den vergangenen zwanzig “DRG-Jahren” ebenfalls Sachverstand im Bereich Leistungsabrechnung aufgebaut. Viele strittige Rechnungen wurden in den Jahren vor Gerichten entschieden. Allerdings gibt es in diesem Grenzbereich zwischen Medizin und Regelgebung viele Detailfragen, die medizinische Kenntnisse und Verständnis für Krankenhausabläufe abverlangen.
Der Sachverständige beantwortet solche Detailfragen. Nebenbei wird dabei im Gutachten gerne der Stand der Erkenntnisse aus Abrechnungssicht erklärt: Was sagt der Katalog, welchen Meinungsaustausch gibt es dazu zwischen MDK und FoKA, welche Beschlüsse hat der Schlichtungsausschuss gefasst usw.. Diese Informationen über die geltenden Regelungen sind für die Gerichte wichtig, weil die Eindringtiefe eines Richters in diese Materie immer begrenzt ist. Aus Gründen der Fachlichkeit und aus Zeitgründen.
Der Einsatz von Sachverständigen wird aber traditionell kritisch gesehen: Machen die Gerichte den Sachverständigen zu sehr zum “informellen Richter”, der de Facto den Fall entscheidet? Siehe auch unseren Artikel dazu.
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Das LSG Niedersachsen-Bremen hat nun eine Bombe in diesen Hühnerstall geworfen, indem es einen Gutachter für ein “rechtsmissbräuchliches Gutachten” bestraft. Rechtsmissbräuchlich sei in diesem Zusammenhang die Beantwortung von Rechtsfragen statt medizinischen Fachfragen. Damit meint der erkennende Senat unter dem Vorsitz von Herrn Valgolio (der unmittelbar nach Verfassung dieses Beschlusses in den wohlverdienten Ruhestand gegangen ist) die Beantwortung von Kodierfragen.
Was war passiert?
Das LSG hatte in zweiter Instanz über die Frage zu entscheiden, ob eine Phlebitis durch Braunüle mit T80.2 (oder T80.1) zu kodieren ist. Das Gutachten fiel überraschend umfangreich (37 Seiten) und teuer (> 4.000 €) aus. Der Rechnungsbetrag lag deutlich über dem Streitwert des Falles. Die Kostenbeamtin der Geschäftsstelle des LSG kürzte daraufhin die Rechnung, was wiederum dem Gutachter nicht gefiel. Daher wurde die Rechnung jetzt richterlich festgesetzt.
Begründung des Gerichts
Das Gericht setzte die Vergütung des Sachverständigengutachtens auf 0,00 € fest. Die Interpretation von Kodierregeln, sei keine medizinische, sondern eine Rechtsfrage, so der Senat. Rechtsfragen seien nicht von einem Sachverständigen, sondern vom erkennenden Senat zu beantworten. Da der Gutachter in seinem umfangreichen Gutachten als alleinig klärungsbedürftige Frage eine Kodierfrage zur Phlebitis benannt hat, hätte er kein Gutachten erstellen dürfen, meint das Gericht.
Dabei spielt es aus der Sicht des LSG keine Rolle, dass dem Sachverständigen genau diese Kodierfrage gestellt wurde. Der Sachverständige hätte erkennen müssen, dass er diese Frage nicht beantworten durfte und das Gericht auf seinen “Fehler” hinweisen müssen.
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Wie geht es weiter?
Das Abschiedsgeschenk des scheidenden Vorsitzenden des 7. Senats LSG – der keine große Erfahrung im Leistungserbringerrecht hat – hat es in sich! Es bedeutet – in Theorie – dass die Gerichte nun selbst zu Abrechnungsexperten werden müssen, um sachgerechte Entscheidungen treffen zu können. In der Vergangenheit haben wir einige Entscheidungen gesehen, die zeigen, dass das nicht immer eine gute Idee ist.
Bedeutet das, dass die Sozialrechtsprechung im Leistungserbringerrecht ab jetzt ohne Sachverständige orientierungslos sein wird? Hoffentlich nicht!
Nicht nur unter Medizincontrollern ist der Schreck groß. Auch in der Sozialgerichtsbarkeit ist die Aufregung spürbar. Dieser Beschluss muss die Praxis der Beweiserhebung durch Sachverständigen in Niedersachsen und Bremen nicht zwingend dramatisch verändern. Für den Rest der Bundesrepublik ist diese Frage erst Recht völlig offen.
Es wäre jedenfalls für die Qualität der Rechtsprechung eine Bürde, die absolut verzichtbar wäre. Der Gerichtsbeschluss geht implizit davon aus, dass die Gerichte die Vorschläge der Sachverständigen kritiklos übernehmen würden. Es ist den Richtern durchaus zuzutrauen, den im Sachverständigengutachten vorgeschlagenen Weg kritisch zu würdigen. Insbesondere die Auslegung der dargelegten Regelungen bleibt immer Sache der erkennenden Kammer / des erkennenden Senats. Daran ändern die Erklärungen des Gutachters nichts.
Präsidentenkonferenz
Die Präsidentinnen und Präsidenten der 14 deutschen Landessozialgerichte und des Bundessozialgerichts treffen sich jährlich im Frühling zur Präsidentenkonferenz. Bei diesen Konferenzen wird nicht nur Kaffee getrunken, sondern es sind Arbeitstreffen, bei denen wegweisende Entscheidungen getroffen werden. Ohne Zweifel wird unser Dilemma auf der Tagesordnung erscheinen. Erst dann werden wir wahrscheinlich erfahren, wie dieser Beschluss umgesetzt werden soll.
Praxis
Bis dahin heißt es also: Füße stillhalten. Die Suppe wird wohl nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wurde. Unmittelbare Änderungen in den laufenden Verfahren sind erst mal nicht zu erwarten.
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